Hallo und guten Tag
Wandergesellen
Ich staunte nicht schlecht, als mein Frauchen auf der Heimfahrt plötzlich rechts ranfuhr und einen etwas eigenartigen Gesellen zur Mitfahrt einlud. Die Türe ging auf und ein großes Stöckchen, an dem zwei Stoffbeutel befestigt waren, wurde vorsichtig auf den Rücksitz geschoben. Dann wurde es dunkel, ein großer Kerl in schicker Tracht mit einem schwarzen Hut in der Hand schob sich in unser kleines Auto auf den Rücksitz. Meine empfindliche Nase tanzte Samba. Meine Güte, war der interessant zum Beschnüffeln …
Er hat dann meinem Frauchen auch erzählt warum, er ist nämlich schon seit 2 ½ Jahren auf Wanderschaft. Ein Zimmermann auf der Walz. Und ist deshalb ganz schön rumgekommen. Alle Nachbarländer hat er besucht. In Afrika hat er sogar beim Bau einer Schule mitgeholfen. Seinem Heimatort darf er sich momentan nur bis auf 50 km nähern, eine sogenannte Bannmeile soll ihn daran hindern in die Bequemlichkeit des Familienlebens zurückzukehren…
Auch viel Geld darf er nicht bei sich tragen. Ein Handy ist tabu – und das in der heutigen Zeit? Er ist auf die Hilfe und das Wohlwollen anderer Menschen angewiesen. Und da ihn die Tracht, die er trägt, als Wandergeselle ausweist, braucht er auch nie lange auf Hilfe zu warten. Ein guter Ruf eilt ihm voraus.
Da habe ich ihn mir mal genauer angeschaut. Er sah richtig schick aus, der riesige Zweibeiner in unserem kleinen Auto. Weißes Hemd, schwarze Jacke und eine Zimmermannshose mit Schlag. Am Hals trug er, wie eine Krawatte, die sogenannte Ehrbarkeit, erklärte er uns. Ich spitzte die Ohren. Ehrbarkeit. Das hört sich ja edel an. Für Ruhm und Ehre, hatte ich schon mal in einem historischen Film am familiären Fernsehabend aufgeschnappt. Ich dachte aber, das wäre bei den Zweibeinern eher in Vergessenheit geraten. Für Ruhm und Ehre macht doch heute kaum einer mehr etwas – heute geht es doch vielmehr um Geld und Macht. Oder etwa doch nicht? Man spricht vom ehrbaren Handwerk, vom ehrbaren Meister und Gesellen. Damit meint man nicht nur einen verlässlichen Partner am Bau, welcher dem Bauherrn hochwertige Arbeit zu einem fairen Preis abliefert. Sondern auch, dass man diesem Menschen Vertrauen kann. Der Handschlag zur Besiegelung des Vertrages reicht, jedenfalls von Seiten des Gesellen. Leider müssen diese inzwischen immer wieder die Erfahrung machen, dass der Vertragspartner über wenig eigene Ehre verfügt und daher ihrem Geld immer öfter nachlaufen.
Man kann sich also auf den Menschen mit einer solchen Tracht und mit so einer Auszeichnung verlassen. Und gerade in der heutigen Zeit sind die Wandergesellen sehr darauf bedacht, dass diese Ehrbarkeit erhalten bleibt und nicht an Wert verliert. Na, ich als Vierbeiner finde es eine spannende Sache, dass in einer Zeit, in der viele Umgangsformen und Tugenden bei den Zweibeinern in Vergessenheit zu geraten scheinen, eine alte Tradition mit so viel Ehrfurcht und Hingabe gelebt wird. Also meine Bewunderung hat dieser Zweibeiner auf jeden Fall und ich bin richtig traurig, als mein Rückenkrauler an einer Tankstelle rausgelassen wird, um dort eine andere Mitfahrgelegenheit zu finden. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich auf das Abenteuer »Wandergesellen« einzulassen, wenn ein solcher in schicker Tracht am Straßenrand steht.
Ihr Pünktchen.
Autor:Redaktion aus Singen |
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