Liebe Leserinnen und Leser
Wir schreiben Woche zehn, seit wir wissen, dass Corona unser Leben verändern wird.
Und wir schreiben die zweite Woche, seitdem wir intensiv damit konfrontiert werden, dass ein Graben durch die Gesellschaft geht, der mittlerweile Angst machen kann.
Wir müssen uns so lange mit dem Virus einrichten, bis ein geeigneter Impfstoff gefunden ist, der hoffentlich dann von Großteilen der Bevölkerung akzeptiert wird. Der Mund-Nasen-Schutz und der Impfstoff erfüllen das gleiche Motto: Beides hilft weniger uns selbst, als den anderen, denen, die bei einer Infektion mit dem Covid-19-Virus gefährlicher leben, als wir selbst das für uns glauben. Ein Solidaritätsprinzip also.
Aber was spaltet da gerade die Gesellschaft und damit auch Familien, Kollegien, Vereine und Freundeskreise?
Spaltpilz Nummer eins: Verschwörungstheorien. Wie entstehen die? Ein Erklärungsversuch: Als erstes braucht es den Einen oder die Gruppe, der die Verschwörungstheorie entwickelt: Er hat ein tiefes Misstrauen gegen Einzelne oder gegen eine Gruppe, zum Beispiel gegen Angela Merkel, gegen Bill Gates oder gegen Greta. Und dann sucht er nach scheinbaren Belegen für die Richtigkeit seines Misstrauens. Jetzt sucht er Fakten, die zu seinem Misstrauen passen: Also beispielsweise die Tatsache, dass Bill Gates die Weltgesundheitsorganisation mitfinanziert. Er schöpft daraus eventuell den Verdacht, dass Bill Gates sich mit Angela Merkel abgesprochen haben könnte und mit allen anderen Regierungschefs der Welt und damit dafür gesorgt hat, dass er sein (vom Verschwörungstheoretiker angenommenes) Monopol auf die Impfstoffe gewinnmaximierend umsetzen könne, vielleicht mit Fred vom Jupiter, der die Weltherrschaft will, oder so ähnlich. Seine phantasierte Idee erklärt er dann zum Fakt. Zum Schluss baut der Verschwörungstheoretiker daraus eine scheinbar logische Geschichte, in der immer mal wieder kleine Puzzlestücke ganz oder fast stimmen. (Das braucht es, damit später genug Menschen darauf reinfallen.)
Dann braucht es zweitens Lautsprecher für diese Theorie. Die heißen »Russia Today« oder »Sputnik News« oder sind Menschen wie Xavier Naidoo. Die haben alle eine Gemeinsamkeit: Sie wollen einen Nutzen aus der Verschwörungstheorie haben. Aufmerksamkeit zum Beispiel oder die Unterwanderung Europas oder Orientierungslosigkeit in der Bevölkerung.
Und zuletzt braucht so eine Verschwörungstheorie drittens viele Menschen, die sie teilen, sonst kommt sie nicht weit. Und diese Menschen haben ebenfalls ein tiefes Misstrauen gegen was auch immer, zum Beispiel die Politik im Allgemeinen und Angela Merkel im Besonderen, vielleicht noch gegen Bill Gates oder Impfungen oder einfach gegen »Die da oben«. Meistens fühlen sich diese Menschen als Opfer der derzeitigen Verhältnisse UND gleichzeitig sind sie nicht bereit, differenziert wahrzunehmen.
Was Verschwörungstheoretiker und ihre Weiterverbreiter grundsätzlich ausblenden, sind die Fragen, die diese Theorie in Frage stellen könnten. Beispielsweise: Was sollte Angela Merkel für ein Interesse daran haben, Bill Gates die Taschen zu füllen kurz vor dem Ende ihrer politischen Laufbahn, zudem sie eigentlich für ihr Tun nur noch die Wertung der Geschichtsbücher als letzte Instanz über sich hat? Und warum sollten nahezu alle Regierungschefs, die sich ansonsten so gar nicht einig sind, jetzt plötzlich einig sein und sogar eine gemeinsame Absprache treffen?
Warum werden diese Fragen ausgeblendet? Weil die meisten von uns dazu neigen, die Fakten zusammenzusuchen, die zu ihrer momentanen Gefühlswelt ganz gut passen. Die eigene Wut will genährt werden. Und wir Menschen sind selten bereit, von einer Meinung, die wir einmal geäußert haben oder geteilt haben, abzurücken. Also suchen wir nur weitere Belege für das bereits Geäußerte. Nicht zuletzt leider, weil viele in Krisenzeiten für die Opfer, die sie bringen müssen, Schuldige suchen, statt Lösungen. So leben die Verschwörungstheorien dann auch weiter fort und wachsen so weit, bis plötzlich in WhatsApp-Gruppen und privaten Videokonferenzen der Antisemitismus wieder auflebt und irgendwelche geheimen Weltregierungstheorien auf Reisen sind, und das nicht etwa von Neonazis, sondern von Menschen, die wir kennen. Da sind wir geschockt. Die Blutspuren, die Verschwörungstheorien durch die Weltgeschichte gezogen haben, sind immens. So funktioniert Demokratie nicht.
Spaltpilz Nummer zwei: scheinbar unverrückbare Fakten und Aussagen. Sie haben tatsächlich den Vorteil, dass sie uns ein Gefühl von Sicherheit vermitteln wollen, was sicherlich für Ruhe in der Bevölkerung sorgt, aber oftmals eben auch trügerische Sicherheit vermittelt. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier hat am Anfang der Coronakrise gesagt, dass alles getan werde, damit kein Arbeitsplatz und kein gesundes Unternehmen schließen muss oder verloren gehe. Ein Trugschluss. Etwas, was nie leistbar war und tiefstes Misstrauen vor allem bei den Betroffenen gegenüber der Politik insgesamt erzeugt. Leider gibt es zudem momentan auch viele, die das kritische Hinterfragen von Amtlichem generell in Misskredit bringen und bringen wollen. Manche würden am liebsten die Diskussionen abschalten. Das, so glauben wir, ist auch nicht der richtige Weg. Weil auch so Demokratie nicht funktioniert. Und weil aus jeder amtlichen Information, die in der Bevölkerung in Teilen anders wahrgenommen wird, so Bausteine für Verschwörungstheorien entstehen.
Das übrigens würde für eine neue, schonungslosere Offenheit und Ehrlichkeit der Politik sprechen, weg vom »Wählereinlullohnewaszusagenvielsprech« hin zu mehr Klartext.
Der Weg, der uns weiterbringt, liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte zwischen den Polen: Und in der Mitte werden beide Positionen hinterfragt, Auseinandersetzungen erlaubt, nichts ausgeblendet, aber in der Tiefe recherchiert und auf logische, sinnvolle Zusammenhänge geprüft. In der Mitte bündeln Fachkräfte ihr Wissen und in der Mitte will man sich verstehen, auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist und spricht miteinander, auch wenn es schwer fällt.
Wir schauen gerade auch auf das, was Zuversicht gibt. Viele erfahren gerade etwas, was sie so wahrscheinlich schon länger nicht mehr in dieser Dimension erlebt haben: Anerkennung für die Bemühungen, das Beste aus der Situation zu machen. Dann ist die Speisekarte kleiner, aber es gibt etwas Besonderes, das Sortiment eingeschränkt, aber der Service noch zuvorkommender oder die Videos vom Fitnessstudio fürs Heimtraining sind ambitioniert, in vielen Pflegeheimen haben sich Menschen bemüht, doch Lösungen für Begegnung zu finden etc. Das ist eine Chance der Krise: Wir können wahrnehmen, wer sich bemüht.
Das sind schöne Beispiele für uns alle: Wo wir im lokalen Raum, hier vor Ort, mit kleinen Schritten, Ideen, kleinen Angeboten und Hilfen Selbstwirksamkeit erleben dürfen, hat die Ohnmacht wenig Platz. Wo wir die Früchte unseres Tuns direkt und unmittelbar mitbekommen, entsteht Zuversicht statt Wut.
Bleiben Sie sich gegenseitig und uns gewogen. Wir freuen uns jede Woche auf Sie.
Carmen Frese-Kroll, Verlegerin
Anatol Hennig, Verlagsleiter
Oliver Fiedler, Chefredakteur
- Verlag Singener Wochenblatt
Autor:Redaktion aus Singen |
Kommentare