Liebe Leserinnen und Leser,

Brückenlockdown, Wellenbrecher, Notbremse, Shutdown … Wir wenden uns für dieses Mal ein bisschen von der aktuellen Tagespolitik ab. Weil wir auf ein weitaus sensibleres Thema gekommen sind, das uns zum Schluss doch wieder irgendwie auf die Corona-Politik, aber nicht nur auf sie, kommen lässt.

Der Grund? Wir hatten eine ordentliche, fast schon zünftige Diskussion in der letzten Redaktionssitzung zwischen Verlegerin, Herausgeber und der gesamten Redaktion.Um was es ging? Erst einmal um eine Leserzuschrift. (Herzlichen Dank Ihnen für Ihre Zuschrift, auch wenn daraus nun ein bisschen etwas anderes wird …) In dieser Zuschrift ging es um die Frage, ob an der Grenze zwischen Schweiz und Deutschland eigentlich überhaupt richtig kontrolliert werde und ob nicht strenger kontrolliert werden müsse und dass das Wochenblatt das zum Thema machen müsse.

Machen wir, wenn auch nicht ganz so, wie unser Leser das wollte. Also: Wir diskutierten und die eine Seite meinte, ja, es müsse strenger kontrolliert werden, weil es ja nicht sein könne, dass die Anständigen zum Schluss das Nachsehen haben, weil die anderen über die Grenze fahren, einkaufen, in die Berge gehen, was auch immer. Und Regeln, die gesetzt sind, sollten eben auch durchgesetzt werden. Die andere Seite sagte: Nein, es soll nicht stärker kontrolliert werden. Die Bilder vom Frühjahr letzten Jahres, als Soldaten in Jeeps die Grenze überwachten, wolle man so nicht mehr sehen. Und: Solche Regeln einzuhalten oder nicht, falle in die Eigenverantwortung, zumal bei den vielen Regeln, die es gebe.

Vielleicht können Sie uns bis hierher folgen, liebe Leserinnen und Leser, und vielleicht kennen Sie solche Diskussionen aus Ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis und wissen daher, welche emotionalen Dimensionen solche Diskussionen bekommen können.

Um es vorwegzunehmen: So richtig einig wurden wir in diesem Punkt nicht, und als der Verfasser vorschlug, wir könnten daraus einen Meinungsstreit in der Zeitung machen, wollte auch niemand so richtig. Seine individuellen Freiheitsvorstellungen (vor allem die, die nicht so sozial sind) oder seinen Anteil Blockwartmentalität will man eben nicht so richtig öffentlich ausbreiten.

Aber: Wir sind nach einigen heftigen Wortwechseln doch zu einigen ganz spannenden Erkenntnissen gekommen, die wir mit Ihnen teilen wollen, zugegebenermaßen sind die folgenden Zeilen jetzt ein bisschen eine Zumutung (Beschwerden oder sonstige Reaktionen können Sie uns gerne wie immer unter seitedrei(at)wochenblatt.net zukommen lassen). Vielleicht liest sogar heimlich der eine oder andere mit, der von Berufs wegen Regeln erlässt …

Wir sorgen erst mal für ein bisschen Stimmung unter Ihnen und fragen Sie ganz privat: Halten Sie die Corona-Regeln ein? Oder suchen Sie Schlupflöcher für sich? Haben Sie möglicherweise sogar Staatshilfen ganz schlau genutzt? Haben Sie die Regeln schon einmal so ein bisschen individuell für sich ausgelegt? War die private Party trotz Corona doch einfach jetzt mal nötig? Oder haben Sie Regeln so ein bisschen umdefiniert, damit Verbote für Sie gerade nicht gelten? Haben Sie sich schon einmal Vorteile irgendwo geholt und in Kauf genommen, dass Sie damit gerade Regeln brechen, vielleicht auch anderen damit schaden?

Nein, wir kommen jetzt nicht mit der moralischen Keule, sondern wir stellen vielleicht mit Ihnen gemeinsam etwas fest: Wir Menschen sind schon auch sozial, aber das mit dem Regeln einhalten und dem sozialen Bewusstsein, das geht meistens immer nur so lange gut, wie es uns selbst gut geht. Und wenn wir selbst nicht mehr einverstanden sind, Regeln nicht mehr verstehen, wenn wir unter Druck geraten oder allzu lange auf etwas, was uns wichtig ist, verzichten müssen, dann hat tatsächlich jeder seine eigene Haltung. Übrigens systemunabhängig, behaupten wir: Ob in einer Demokratie, in einer Diktatur, im Sozialismus, im Kapitalismus: Es geht um die eigene Haltung, mit ihr entscheiden wir.

Und diese eigene Haltung (die eigenen Werte, die man in sich trägt aufgrund von Erziehung, Erfahrung etc.) stößt dann auf Regeln. Und für diese Regeln gilt unserer Meinung nach (ab hier waren wir letzten Donnerstag in der Redaktionssitzung einigermaßen einig):

Erstens: Regeln müssen verstanden werden können. Dazu müssen sie einfach formuliert sein und wir Menschen müssen die Regeln als stimmig empfinden können. Beispiel: Ist eine Ausgangssperre für mich logisch, wenn ich um 21.30 Uhr alleine joggen gehen will, vielleicht nachdem ich einen harten Arbeitstag hinter mir habe?

Zweitens: Regeln müssen in der Wirklichkeit des Lebens als gerecht empfunden werden: Wenn ein Kind gesagt bekommt, dass es nicht lügen soll, aber die Eltern oder Onkel und Tante lügen wie gedruckt, dann wird es schwierig. Da braucht das Kind schon eine ganz besondere Haltung, um nicht selbst zu lügen. Und da sind viele von uns Erwachsenen nicht viel weiter. Nach diesem Strickmuster werden Jahr für Jahr in Deutschland, behaupten wir, immens viele Steuern am Sozialwesen vorbei »gespart«, weil es andere ja auch tun. Irgendwann, das ist die Folge, gibt es so viele Regeln, dass keiner sie mehr richtig durchschaut und jeder ist verdächtig …

Zweitens a: Regeln dürfen sich nicht gegenseitig widersprechen und müssen im Alltag umsetzbar sein. Logisch, denn sonst machen wir es ja in jedem Fall falsch und haben immer ein schlechtes Gewissen. Vielleicht kennen Sie selbst solche sich gegenseitig widersprechenden Regeln.

Drittens: Wer Regeln befolgen soll, braucht einen Sinn darin, vielleicht einen Vorteil, vielleicht aber auch, dass er wirklich versteht, dass damit zum Beispiel der Frieden in einer Gesellschaft erhalten wird. Oder im Falle der Corona-Regeln, welche Perspektiven entstehen, wenn alle die Regeln einhalten. Und bei entsprechender Haltung des einen oder anderen Menschen ist es dann auch gut, wenn hinter der Nichteinhaltung von Regeln Strafen stehen. Allerdings gilt hier dann auch Punkt vier …

Viertens: Man muss sich die Regeln merken können, sie müssen präsent sein, sichtbar sein und nicht alle zwei Wochen geändert werden, also ist weniger mehr. Da kann sich jeder selbst überlegen, wie neun Seiten Corona-Landesverordnung wirken, die alle paar Wochen neu geschrieben wird. Oder wie es Unternehmern geht, die von EU-Behörden wegen möglicher Regelverstöße angeschrieben werden, die sie nicht einmal kennen (weder die Behörden noch die Regeln). Es gibt einen guten Grund, warum es im Alten Testament zehn Gebote gibt und nicht 3.456 Paragraphen …

Fünftens: Regeln, die viele nicht einhalten und die nicht durchgesetzt werden, durchhöhlen letztlich die Gesellschaft und das Rechtssystem. Bewusst fünftens, weil es uns in der Diskussion irgendwie klar geworden ist, dass es in diesem Land so viele Regeln, Unterregeln, Unterunterregeln und Ausnahmeregeln von den Unter- und Unterunterregeln gibt, dass es sehr wichtig wäre, den Wildwuchs an Regeln gründlich zu durchforsten, dann kann man Regeln vielleicht auch wieder verständlich machen, mit Sinn belegen und im Zweifelsfall durchsetzen.

Ist das ein Aufruf zum organisierten oder unorganisierten Ungehorsam gegenüber den Corona-Regeln? Nein. Es ist vielmehr ein Aufruf an die Regelmacher in dieser Gesellschaft, mit Regeln sparsam und verantwortungsvoll umzugehen und vielmehr unsere Haltung zu adressieren. Diese Haltung, sie braucht, dass man uns etwas zutraut. Sie braucht, dass wir verstehen können, was der Sinn einer Regel ist, Sie braucht Perspektiven, die wir sehen können und sie braucht hin und wieder Austausch und Perspektivenwechsel, damit sie nicht zu steif wird, die eigene Haltung.

Lassen Sie uns aufrecht und offen gleichzeitig bleiben.

Gute Woche!

Carmen Frese-Kroll, Verlegerin
Anatol Hennig, Herausgeber
Oliver Fiedler, Chefredakteur

Autor:

Redaktion aus Singen

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