Musicaldarstellerin Alice Wittmer spricht mit dem Wochenblatt über die Lage in der Kulturbranche
»Wer das aufgeben muss, dem bricht das Herz«

Alice Wittmer | Foto: Von Rielasingen-Worblingen auf die großen Bühnen: Alice Wittmer hat es geschafft. Im Interview mit dem Wochenblatt berichtet sie, wie es ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen aus der Kulturbranche derzeit geht. swb-Bild: pr
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Rielasingen-Worblingen. Normalerweise steht Alice Wittmer auf den großen Bühnen und begeistert andere Menschen als Musicaldarstellerin mit ihrem Gesang und Schauspiel. Zur Zeit kann sie aber, wie die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen, nicht arbeiten. Im Gespräch mit dem Wochenblatt berichtet die Wahl-Hamburgerin, die gebürtig aus Rielasingen-Worblingen stammt, wie es ihr und ihren Kollegen im Moment geht, wie manch einer seinen Kultur-Job ganz an den Nagel hängen muss und wie die Vorbereitungen für den Neustart der Kulturbranche laufen.

Wochenblatt: Wie geht es Ihnen im Moment, Frau Wittmer?

Alice Wittmer: »Ich darf mich nicht beklagen. Mir geht es soweit gut, aber man würde natürlich schon gerne mal wieder arbeiten. So langsam geht es wirklich an die Substanz. Ich bin niemand, der einfach auf dem Sofa bleiben und entspannen kann. Ich muss immer etwas machen und dieser Drang wird natürlich immer größer.«

Wochenblatt: Erinnern Sie sich noch, wann Sie das letzte Mal vor Publikum auf der Bühne stehen durften?

Alice Wittmer: »Ja. So richtig ohne Beschränkungen war mein letzter Auftritt am 11. März 2020. Da war ich noch mit »Falco – Das Musical« auf Tour. Die letzte Vorstellung war in Chemnitz vor 1.300 Leuten. Danach wurden wir nach Hause geschickt. Ich hatte dann zwar nochmal ein Live-Konzert im Juli, als es dann Lockerungen gab, aber da waren 120 Leute in einem Saal für 1.200 Zuschauer und das war es dann auch. Seither gab es nur noch Streaming-Konzerte ohne Live-Publikum.«

Wochenblatt: Für Menschen, die auf der Bühne stehen, ist doch die direkte Interaktion mit dem Publikum sehr wichtig. Ist es da nicht komisch, sich bei einem Streaming-Konzert einfach nur vor die Kamera zu stellen?

Alice Wittmer: »Am Anfang ist das natürlich aus der Not heraus entstanden. Teils mit einfachsten Mitteln. Inzwischen ist das bei vielen schon deutlich professioneller geworden. Am Anfang habe ich mich schon gefragt, was ich hier eigentlich mache, als ich für mich allein vor der Kamera gestanden bin, denn man bekommt ja kein direktes Feedback. Normalerweise ist es immer ein Geben und Nehmen mit dem Publikum. So schaut man buchstäblich in die schwarze Röhre und fragt sich, wie das, was man macht, wohl ankommt. Da ist man dann am Ende ganz von den Kommentaren abhängig.«

Wochenblatt: Gibt es für Sie im Moment überhaupt die Möglichkeit, Geld zu verdienen, oder sind Sie auf staatliche Unterstützung angewiesen?

Alice Wittmer: »Ja, es gibt Künstlerinnen und Künstler, die über Plattformen Karten verkaufen für ihre Konzert-Streams. Aber man muss bedenken, dass das natürlich auch nicht das Gleiche ist wie bei einem richtigen Konzert, aber man kann zumindest ein bisschen was machen und die Einnahmen helfen dabei, das hierfür angeschaffte Equipment abzubezahlen. Ich selbst habe das ganz große Glück, zur Zeit eine Festanstellung bei einem großen Musical-Unternehmen zu haben. Deshalb bin ich einfach nur in Kurzarbeit und dadurch gut abgesichert. Das ist für mich ein ganz großes Glück, denn ich sehe jeden Tag bei Freunden und Kollegen, dass das nicht selbstverständlich ist. Ich kenne viele, die mittlerweile ihr ganzes Erspartes aufgebraucht haben oder die Hilfsgelder beantragt haben, welche bislang noch nicht angekommen sind. Nach über einem Jahr sind bei den Meisten aber die Ersparnisse aufgebraucht und ich habe auch Freunde, die inzwischen zurück zu ihren Eltern ziehen mussten. Ganz viele haben sich inzwischen auch schon andere Jobs gesucht. In einer Social-Media-Gruppe, in der ich bin, hat kürzlich ein Kollege eine Liste veröffentlicht zum Thema ›Was macht ihr inzwischen?‹. Da kamen vier DIN-A4-Seiten zusammen mit Schauspielern, Musikern, Kameraleuten und Tontechnikern, die jetzt beim Metzger oder als Paketboten arbeiten oder nochmal angefangen haben, etwas Neues zu studieren.«

Wochenblatt: Es muss sehr bedrückend sein, auf diese Art aus seinem Job gedrängt zu werden.

Alice Wittmer: »Ich würde sagen, 90 Prozent der Menschen in der Kulturbranche haben ihren Job nicht gewählt um reich zu werden, denn wenn man nicht gerade Till Schweiger ist, muss einem bewusst sein, dass man damit nicht das große Geld macht. Es ist also für uns nicht Arbeit, sondern Berufung. Wer das aufgeben muss, dem bricht das Herz.«

Wochenblatt: Der kulturelle Bereich war der erste, der komplett zurückgefahren wurde und ist vermutlich einer der letzten, der wieder in den Normalbetrieb gehen wird. Was macht das mit Ihnen? Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsstand ausreichend von der Politik wahrgenommen oder wird die Kultur zu wenig wertgeschätzt?

Alice Wittmer: »Das ist sehr schwierig. Ich möchte wirklich grade nicht in der Haut unserer Politiker stecken, die sehr schwere Entscheidungen für 81 Millionen Menschen treffen müssen. Da ist es ja auch klar, dass man es nie allen recht machen kann, und die Gesundheit geht natürlich vor. Aber man merkt, dass es Branchen gibt, die, nicht zuletzt durch ihre Lobby-Arbeit, bevorzugt werden oder zumindest mehr Aufmerksamkeit bekommen. Ich freue mich für jeden, der arbeiten kann, aber teilweise stimmen einfach die Verhältnisse nicht. Es ist zwar schön, wenn sich Politiker ins Fernsehen stellen und auf Kulturfonds und Hilfsgelder verweisen, aber die Realität ist einfach eine andere. Nämlich dass jetzt im April noch immer Leute auf November- und Dezemberhilfen warten. Und dann wäre es zumindest wünschenswert, dass mitgeteilt wird, dass sich die Bearbeitung verzögert, aber auch das ist nicht der Fall. Wenn Kollegen jetzt noch immer nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen, während im Fernsehen gesagt wird, man habe Gelder für die Kultur herausgegeben fühlt man sich ein bisschen verarscht.«

Wochenblatt: Haben Sie die Sorge, dass diese Krise einen längerfristigen Schaden in der Kulturbranche anrichtet?

Alice Wittmer: »Diese Sorge war schon von Anfang an da. Der Mensch ist ja ein Gewohnheitstier und ich habe die Befürchtung, dass sich Menschen in Zukunft zweimal überlegen, ob sie viel Geld für eine Kinokarte ausgeben oder lieber zuhause auf dem Sofa bleiben und für ein paar Euro ihr Abo bei einem Videostreamingdienst behalten. Genauso mit den Konzerten. Am Anfang haben ja viele von uns kostenlos ihre Musik online gestreamt. Mittlerweile kommt es vor, dass Leute fragen, warum sie plötzlich Geld bezahlen müssen, um dem Stream beitreten zu dürfen. Da merkt man, dass irgendwas in die falsche Richtung läuft. Insgesamt habe ich die Befürchtung, dass Live-Erlebnisse zugunsten von Streaming etwas in den Hintergrund geraten.«

Wochenblatt: Aber Kultur lebt doch vom Live-Erlebnis?

Alice Wittmer: »Genau. Vor allem ist es etwas Einmaliges. Einen Stream kann man sich immer wieder anschauen, aber das Live-Erlebnis ist einzigartig. Ich erinnere mich an ein kleines Theater in Bremen, in dem ich mal spielen durfte, da konnten wir wirklich auf das Publikum eingehen. Wenn jemand geniest hat, dann durften wir das zum Beispiel einbauen. In der nächsten Vorstellung hat das so natürlich dann nicht mehr stattgefunden. Also es ist wirklich ein ›Für diesen Moment‹-Erlebnis. Das geht beim Streaming in dieser Form natürlich nicht.«

Wochenblatt: Wie sehen denn in der Kulturbranche die Planungen im Hinblick auf einen Neustart aus?

Alice Wittmer: »Es gibt die Organisation Alarmstufe rot, die auch Demos veranstaltet hat, um auf die Belange der Veranstaltungs- und Kulturbranche hinzuweisen. Die versuchen darüber mit der Politik ins Gespräch zu kommen. Erst vor einer Woche fand zudem ein Symposium statt mit den Chefs von Stage-Entertainment und Eventim sowie Virologen des RKI, bei dem es darum ging, wie Kultur auch irgendwann wieder ohne Mindestabstand möglich wird. Daneben gibt es ja bereits in jedem Theater und jeder Veranstaltungshalle ein Hygienekonzept. Also wir stehen in den Startlöchern und könnten eigentlich sofort wieder loslegen, sobald wir dürfen, und das auch in einem sicheren Rahmen. Dafür wurde im letzten Jahr schon viel getan.«

Wochenblatt: Wie sieht denn im Moment eigentlich Ihr Alltag aus? Wenn Sie sagen, Sie sind jederzeit startklar, dann müssen Sie sich wahrscheinlich auch fit halten. Ähnlich wie ein Sportler, oder?

Alice Wittmer: (lacht) »Es gibt natürlich die Phasen, wo man sich fragt, warum man das alles eigentlich macht, denn es gibt im Moment ja kein Ziel. Das ist das Schwierige. Klar ist man als Künstler gewohnt, dass es mal Hochs und Tiefs gibt, aber in der Regel weiß man, wann der nächste Vertrag beginnt. Im Moment weiß man aber nicht, wann es weitergeht. Das heißt, man muss sich immer auf einem guten Level halten. Dazu gehört bei uns die stimmliche, aber auch die körperliche Fitness. Aktuell bin ich einmal die Woche bei meinem Gesangslehrer, mache aber auch viel zuhause im Studio. Zusätzlich gibt es einmal die Woche körperliches Training mit einem Personal-Trainer, zusätzlich mache ich Yoga. Denn wenn die Proben wieder losgehen, muss ich fit sein. Sonst besteht auch Verletzungsgefahr. Das Vorurteil, dass wir nur drei Stunden am Tag arbeiten, nämlich während der Vorstellung, ist natürlich weit weg von der Wahrheit. Es kommen noch mindestens anderthalb Stunden Vor- und Nachbereitung dazu und man muss sich tagsüber fit halten und sich gegebenenfalls schon auf die nächsten Jobs vorbereiten. Das heißt, in der Regel habe ich auch einen Acht-/Neun-, wenn Proben sind auch Zwölf-Stunden-Tag.«

Wochenblatt: Wie sehen denn Ihre Perspektiven im Moment aus?

Alice Wittmer: »Mein Hauptarbeitgeber schickt alle zwei Wochen E-Mails, um uns auf dem Laufenden zu halten. Allgemein lässt sich sagen, wir stehen in den Startlöchern. Das Einzige, was ich im Moment relativ sicher weiß, ist, dass ich im Mai eine Wiederaufnahme mit »My Fair Lady« in Kiel habe mit fünf Vorstellungen. Das Theater in Kiel gehört zu einem Testprojekt in Schleswig-Holstein, weil dort die Inzidenzen sehr niedrig sind. Da werden alle vom Theater und auch alle Zuschauer vorher getestet. Das wäre dann, wenn alles gut geht – toi, toi, toi – wieder das erste Mal auf der Bühne.«

Wochenblatt: Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie wieder auf der Bühne stehen dürfen?

Alice Wittmer: »Auf alles! Schon allein bei der Frage bekomme ich Tränen in den Augen. Wenn das erste Mal das Orchester loslegt und man das Publikum spürt, in dieser Sekunde wo das Licht heruntergefahren wird und der Dirigent ansetzt, dann wird das ein ganz besonderer Moment. Das klingt jetzt klischeehaft, aber dafür lebe ich einfach.«

Wochenblatt: Was macht Ihnen in dieser schwierigen Situation am meisten Mut?

Alice Wittmer: »Am meisten Mut machen mir die Leute, die mir und uns schreiben und immer noch hinter uns stehen. Beispielsweise, wenn wir etwas posten und dann so Kommentare kommen wie ›Oh, wie toll‹, ›Du machst mir so gute Laune‹ oder ›Das hat mir den Tag gerettet‹. Da sieht man, dass es noch sehr viele Menschen gibt, die das noch brauchen. Das motiviert mich weiterzumachen und macht mir auch Mut, dass wieder Leute ins Theater gehen.«

- Dominique Hahn

Autor:

Redaktion aus Singen

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