„Gesellschaft sind wir alle ...“
Nachgehakt bei Andreas Jung Teil 2

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Was kann und muss aus der Corona-Krise gelernt werden? Wie steht es um die Bildung unserer Kinder? Wo war die Bundesregierung zu spät dran? Wie nachvollziehbar waren und sind die Corona-Regeln? Im zweiten Teil unseres Interviews mit dem Bundestagsabgeordneten Andreas Jung geht es vor allem darum, was aus der Corona-Krise zu lernen ist, wie wir eine Spaltung der Gesellschaft verhindern und ob uns im Herbst eine nächste Welle drohen könnte.

Wochenblatt: Schauen wir zu den Kindern, den Jugendlichen, in die Schulen und Kindergärten. Ist dort alles gut gelaufen in der Pandemie?

Andreas Jung: »Erstens eine ganz persönliche Beobachtung: In ›unserer‹ Kita leisten seit Beginn der Pandemie die Leiterin, Erzieherinnen und Erzieher Großartiges. So wie sie sind viele über sich hinausgewachsen – auch in Kindergärten, Schulen und in der Gesellschaft insgesamt. Trotz all dieses Engagements: Gerade Kinder und Jugendliche leiden besonders unter der Krise. Sie brauchen unsere besondere Zuwendung. Wir haben deshalb für sie ein Aktionsprogramm ›Aufholen nach Corona‹ auf den Weg gebracht. Da geht es um Lernrückstände, aber genauso um Freizeitaktivitäten. Wie gut, wenn das Fußballtraining jetzt wieder losgeht, wenn wieder in kleinen Gruppen getanzt und musiziert werden kann! Und dann bin ich gegen ›Schwarz-Weiß‹ in der Analyse. Es muss differenziert werden – bei Kindern und Jugendlichen und beim Corona-Management ganz allgemein – es ist weder ›alles gut gelaufen‹, noch ›alles schlecht‹. Man darf bei alldem nicht vergessen: die Pandemie ist eine ungekannte Extrem-Situation, für die es kein fertiges Drehbuch gab, keinen Masterplan. Es wird viel geleistet und geschultert. Aber bei allem redlichen Bemühen gibt es auch Schwächen und Fehler.«

Wochenblatt: Hat Homeschooling funktioniert? Haben die Drähte zwischen Schülern, Lehrern, Schulleitungen und den Landes- und Bundesbildungsverantwortlichen funktioniert?

Andreas Jung: »Es gab Lehrerinnen und Lehrer, die fast rund um die Uhr für ihre Schüler Homeschooling im Netz machten und die immer auch für individuelle Fragen ansprechbar waren. In anderen Fällen hat es weniger gut geklappt. Dasselbe gilt für die Kommunikation aller an der Schule Beteiligten. Diese Unterschiede gibt es leider auch in ›normalen‹ Zeiten, dann vielleicht weniger ausgeprägt und mit weniger öffentlicher Beachtung. Es wird dann immer wieder die Frage aufgeworfen: Brauchen wir mehr Vereinheitlichung im Schulsystem?«

Wochenblatt: Was kann gelernt werden, was muss korrigiert werden jetzt im Bildungssystem?

Andreas Jung: »Zentralismus ist jedenfalls nicht die Antwort. Auch wenn ich Bundestagsabgeordneter bin: Ich glaube nicht, dass gleich alles besser wäre, wenn nur das Bildungsministerium in Berlin und nicht mehr die Kultusministerin in Stuttgart zuständig wäre. Wenn es Unterschiede zwischen zwei Schulen in derselben Stadt gibt, dann kann das ja auch gar nicht an der Frage Bund oder Land hängen. Aber wir brauchen mehr verbindliche Standards, damit alle Schülerinnen und Schüler vergleichbare Bedingungen haben, egal wo in Deutschland sie leben.

Mehr Tempo beim Digitalpakt

Daran arbeitet die Kultusminister-Konferenz. Der Bund muss sich vor allem bei den technischen Voraussetzungen engagieren. Ich selbst habe als Verhandlungsführer der Union im Vermittlungsausschuss mitgeholfen, mit einer Grundgesetzänderung den Weg zum Digitalpakt Schule zu ebnen: eine Milliarden-Förderung für schnelles Internet an allen Schulen und für digitale Lehr- und Lernmittel. Zudem müssen die Bildungsplattformen besser vernetzt werden. Das alles nicht um klassischen Unterricht zu ersetzen, sondern um ihn optimal zu ergänzen. Ich bin enttäuscht über die schleppende Umsetzung. Da muss mehr Tempo rein! Und ganz generell: Wir brauchen nach der Pandemie eine Generalrevision staatlicher Abläufe und Prozesse. Wie unter einem Brennglas zeigt die Pandemie, wo Handlungsbedarf ist. Da müssen wir ran und schneller, effizienter und digitaler werden!«

Wochenblatt: Landauf, landab wird die Bundesregierung dafür kritisiert, dass im Sommer 2020 keine dezidierte, vorausschauende Corona-Strategie entwickelt worden ist. Ist der Grund dafür gewesen, dass, wie Sie von sich selbst sagen, nicht nur Sie, sondern viele im politischen Berlin gehofft hatten, dass Kitas, Kindergärten, Schulen und auch Betriebe nach dem ersten Lockdown im letzten Frühjahr nicht noch einmal geschlossen werden müssen?

Andreas Jung: »Die Kritik akzeptiere ich. Man kann fragen, was frühzeitiger hätte entwickelt werden können, um gleich effektiver auf die rasant ansteigenden Zahlen im Herbst zu reagieren. Für mich ist entscheidend: Wir müssen die richtigen Lehren aus den Erfahrungen ziehen – und da sind Bund, Länder und Kommunen gemeinsam gefordert. Das gilt auch jetzt wieder:

Brauchen den digitalen Impfausweis

Nach den Öffnungsschritten bei der Gastronomie und im Einzelhandel müssen ortsnahe Testkapazitäten weiterhin flächendeckend leicht zugänglich sein und digitale Anwendungen müssen forciert werden. Und beim Impfen brauchen wir jetzt schnell den digitalen Ausweis!«

Wochenblatt: Im Oktober haben Sie gesagt, dass Regeln gut begründet werden müssen, damit sie akzeptiert werden, Parlamente müssten konkretisieren und befristen. Fast sechs Monate später haben wir das Gefühl, dass Regeln, auch die Corona-Regeln, überhaupt nicht mehr begründet werden. Fehlt die Fachrichtung Psychologie bei den ja durchaus in großer Zahl zu Rate gezogenen Beraterinnen und Beratern oder was ist da los?

Andreas Jung: »Was offensichtlich schlecht begründet ist, wird nicht akzeptiert. Das hat die ›Osterruhe‹ der Ministerpräsidenten-Konferenz gezeigt. Nach einem Tag war sie wieder abgesagt. In den meisten Fragen ist es schwieriger: Natürlich werden die Entscheidungen ausführlich und öffentlich begründet. Gerade auch in unseren Debatten: das Parlament entscheidet nun ja noch einmal deutlich mehr, nicht nur in den Grundlagen, sondern auch in der konkreten Umsetzung. Die Begründungen werden allerdings im Bundestag und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert und nicht von allen geteilt. Das ist aber der demokratische Normalfall. Zu dem gehört allerdings auch, sich immer wieder selbst zu hinterfragen.

Private Kontaktsperren werden immer weniger akzeptiert

Auch hier ein Beispiel: Wegen des Impffortschritts und der jetzt bestehenden Testmöglichkeiten werden Kontaktbeschränkungen im Privaten immer weniger akzeptiert. Auch hier sollten zeitnah Konsequenzen gezogen werden.«

Wochenblatt: Was hat besser funktioniert in der Krise: dezentrale Versorgung und Entscheidung (Beispiele: Tübingen oder das Impfen durch die Hausärzte) oder zentrale Regulierung (Beispiel: Impfstoffversorgung und -verteilung)?

Andreas Jung: »Auch hier: Schwarz-Weiß hilft da nicht weiter. Natürlich muss der Impfstoff zentral beschafft werden. Es kann ja nicht jede Gemeinde selbst mit den Herstellern verhandeln. Und ich halte es auch bei aller berechtigter Kritik an Umsetzung und Geschwindigkeit für richtig, dass Europa hier gemeinsam aufgetreten ist. Wenn nur wir Deutschen Impfstoff hätten, andere aber nicht, dann wäre es mit der Reisefreiheit in Europa auch nicht weit her. Den jetzt eingeschlagenen Weg des Impfens bei den Hausärzten zusätzlich zu den Impfzentren unterstütze ich aber ausdrücklich. Die Hausärzte sind das Rückgrat unseres Gesundheitssystems in der Fläche und das über Jahre aufgebaute Vertrauen hilft gerade auch bei der Impf-Entscheidung. Modellprojekte wie das in Tübingen sind ein wichtiges Element. Erkenntnisse müssen dann auch in der Fläche umgesetzt werden.«

Wochenblatt: Kommt im Herbst/Winter die nächste Welle, der nächste Lockdown, was ist Ihre persönliche Einschätzung?

Gehe von keiner Herbst-Welle aus

Andreas Jung: »Auf Basis von allem, was wir wissen, gehe ich fest davon aus, dass das nicht der Fall sein wird. Wenn nicht etwas völlig Unerwartetes passiert, ist die Situation dann eine grundlegend andere als im vergangenen Herbst. Bis dahin sollte es ein Impfangebot an alle gegeben haben. Und wenn sich genügend Menschen dann auch wirklich impfen lassen, werden wir eine Herdenimmunität erreichen. Der Weg zurück zur Normalität ist dann geebnet. Das ist das, was ich nach bestem Wissen und Gewissen sagen kann. Wir müssen alles was in unserer Macht steht tun, damit es so kommt.«

Wochenblatt: Was glauben Sie, muss jetzt im Sommer 2021 erarbeitet werden, damit der Kollateralschaden dieses Mal kleiner wird?

Andreas Jung: »Neben der sorgfältigen Vorbereitung des neuen Schuljahrs halte ich leicht zugängliche Tests und deren Verknüpfung mit Öffnungen für besonders wichtig, genauso wie eine zügige Fortsetzung der Impfkampagne mit einem Angebot so schnell wie möglich an alle über 16 Jahre. Und parallel brauchen wir eine sensible Debatte über ein mögliches Angebot auch an die Jugendlichen von 12 bis 15 Jahren. Es gibt Gründe dafür – wie die Hoffnung, dadurch auch bei ihnen bestehende Gesundheitsgefährdungen auszuschließen und einen sicheren Regelbetrieb in den Schulen zu ermöglichen. Aber auch Argumente dagegen – wie die Annahme, es könne auch so Herdenimmunität erreicht werden – und den Hinweis, dass Jugendliche bei Corona fast nie einen schweren Verlauf haben. Angesichts der unterschiedlichen Standpunkte wird auch einer Empfehlung der Ständigen Impfkommission Bedeutung zukommen. Das ist das unabhängige Expertengremium mit Vertretern aus Wissenschaft und Forschung, öffentlichem Gesundheitsdienst und Ärzteschaft.«

Wochenblatt: Hat sich Ihr Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit Zahlen und Statistiken geändert seit Corona?

Andreas Jung: »Wissenschaftliche Erkenntnisse sind und bleiben die Grundlage politischer Entscheidungen. Was denn sonst? Aber gleichzeitig gilt: Als demokratisch gewählte Vertreter tragen wir letztlich die politische Verantwortung. Dies gilt insbesondere, weil es in vielen Fragen naturgemäß einen wissenschaftlichen Diskurs gibt­­ – aber eben nicht ›die‹ eine allein richtige Haltung ›der‹ Wissenschaft. Und natürlich ist es auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse politische Aufgabe, unterschiedliche Gesichtspunkte in Einklang zu bringen. Auch Grundrechte beschränken sich gegenseitig.

Würde als eher absoluter Wert?

Darauf hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ja schon sehr früh in der Pandemie aufmerksam gemacht: Sogar das Recht auf Leben gelte nicht absolut, wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, sei das die Würde des Menschen. Am Ende also muss auf wissenschaftlichem Fundament politisch entschieden werden. Das ist bei Corona nicht anders als beim Klimaschutz. Und immer gilt wiederum, dass jede politische Entscheidung der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterliegt. Und auch in Karlsruhe wiederum sind neben den Verfassungsgrundsätzen wissenschaftliche Erkenntnisse maßgebliche Grundlagen der Entscheidungen – das ist gerade bei der Entscheidung zum Klimaschutz sehr deutlich geworden.«

Wochenblatt: Wenn Sie eine Rede halten könnten vor den Bundes- und Landespolitikern mit dem Thema: Was müssen wir ändern im Umgang untereinander und im Umgang mit der Bevölkerung und was lernen wir aus den letzten Monaten? Was wären die prägnanten Kernsätze der Rede?

Andreas Jung: »Zwei Kernsätze: Niemand will von uns hören, ob Berlin oder Stuttgart schuld ist, wenn etwas nicht klappt, wir haben eine gemeinsame Verantwortung, dass es klappt. Wir spüren doch alle, wie unsere Gesellschaft droht auseinander zu driften, gerade jetzt in der Krise. Wichtiger als Parteipolitik ist da doch die Frage: Wie können wir als Demokraten zusammenhalten und zusammenführen?«


Wochenblatt:
Wir und viele unserer Gesprächspartner haben das Gefühl, dass wir noch nie so einen tiefen Einblick in die Gesellschaft, in die Antriebe von Menschen, in das politische Räderwerk bekommen haben. Was war für Sie am erschreckendsten?

Was war erschreckend?

Andreas Jung: »Die Unerbittlichkeit und die Schärfe, die es bei einer kleinen, aber lauten Minderheit gibt. Damit meine ich ausdrücklich nicht Kritik, auch nicht harte Kritik. Oft kann ich diese aus Sicht der Betroffenen sogar nachvollziehen und noch einmal: Manches ist auch berechtigt. Für mich ist aber erschreckend, wenn dabei böse Absicht unterstellt, von ›Diktatur‹ gesprochen oder alle Institutionen von der Politik über Gerichtsbarkeit und Wissenschaft bis zu den Medien pauschal verunglimpft werden.«

Wochenblatt: Was hat Sie im positiven Sinne überrascht?

Und was war positiv?

Andreas Jung: »Der viel beschworene Zusammenhalt der Gesellschaft. Bei allen angesprochenen Tendenzen gibt es ihn eben doch: Nachbarn kaufen füreinander ein. Der Jugendtrainer besucht jedes Kind einzeln zu Hause und schenkt jedem einen Fußball, damit es das Team nicht vergisst. Chöre proben im Internet und treten dort auf, um anderen ein wenig Freude zu schenken. Kirchengemeinden entwickeln mit Kreativität neue Formate, um Mitmenschen in der Krise Halt zu geben. Ein unglaubliches ehrenamtliches Engagement in Testzentren. All das habe ich persönlich unmittelbar erlebt und es hat mich sehr berührt.«


Wochenblatt:
Was müssen wir beachten, damit wir eine tiefe Spaltung der Gesellschaft verhindern?

Andreas Jung: »Vor allem müssen wir uns darüber klar sein, dass wir alle zusammen diese Gesellschaft sind und wir das nicht irgendwo oder bei irgendwem abladen können. Auch über 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik gilt: Es gibt keine Demokratie ohne Demokraten. Und über 30 Jahre nach dem Mauerfall gilt für uns alle: Wir sind das Volk. Und deshalb ist es an uns heute, unsere Errungenschaften zu verteidigen, nichts davon ist selbstverständlich: ein Leben in Demokratie und Freiheit, offene Grenzen in Europa, Wohlstand und sozialer Zusammenhalt. Aber eben auch: ein sorgsamer Umgang mit Umwelt und Ressourcen in Verantwortung vor künftigen Generationen. Das alles ist unsere Aufgabe, als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und als Gesellschaft insgesamt.«

Wochenblatt: Herzlichen Dank für das Gespräch, das wir über zwei Wochen so via Tastatur führen konnten, Herr Jung.

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

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