Über fünf Jahre im „Leierkasten“ Radolfzell
„Wilde Zeit“ aus der man viel lernen konnte

Hans-Joachim Schiller war von 1971 bis 1975 im Führungsteam des „Leierkasten“ in Radolfzell, einem der ersten autonomen Jugendtreffs der Region überhaupt.  | Foto: Oliver Fiedler
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  • Hans-Joachim Schiller war von 1971 bis 1975 im Führungsteam des „Leierkasten“ in Radolfzell, einem der ersten autonomen Jugendtreffs der Region überhaupt.
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1969 war eine wilde Zeit, als auch im Hegau die Jugend aufbegehrte und eine neue Welt wurde. Auch in Radolfzell. Aber dort auf eine ganz bemerkenswerte Art. Denn dort wurde damals einer der ersten „autonomen“ Jugendtreffs in der Region geboren, wie sich Hans-Joachim Schiller erinnert, der zum 50. Geburtstag in 2019 einen gigantisch gefeierten Treff der „Ehemaligen“ auf die Beine gestellt hatte, dessen Erlös kürzlich dem Radolfzeller Jugendgemeinderat gespendet wurde, um diesen dabei zu unterstützen, selbst einen eigenen Raum zu finden.

„Die Geschichte begann schon abenteuerlich“, so Hans-Joachim Schiller. Der Schüler Tilmann Steinhilber war keiner von den in Vereinen organisierten Jugendlichen, die ja ihre Treffpunkte hatten, zum Beispiel das Haus der Jugend. Als er durch die Altstadt lief, entdecke er ein zum Abbruch freigegebenes Haus in der Fürstenbergstraße, wo das Milchhäusle und die Weinstube geschlossen hatten. Steinhilber ging kurzerhand zu OB Riester und fand Wohlwollen. Die Jugendlichen durften machen. „Gedacht wurde damals nicht an eine lange Nutzung, denn das Haus war ja wirklich abbruchreif“, so Schiller. „Damals gab es ja längst nicht in jeder Familie ein Telefon, wir brauchten einen Ort und feste Zeiten, um uns zu treffen.“ Und wer da nicht da war, hatte eben Pech gehabt. In der Stadt war das eben nicht so einfach, denn in den Dörfern gabs ja meist – oft am Milchhäusle – die „Latschariplätze“ wo man sich einfach so treffen konnte. Glorioserweise konnte der Leierkasten sogar einen Vertrag mit Zuschuss von der Brauerei sichern, sodass der Treffpunkt mehr und mehr zum autonomen Jugendtreff wurde.

Die Wechsel waren natürlich symptomatisch. Nach der Schule zog es die Jugendlichen erst mal weg – oder die mussten zum Wehrdienst oder verweigerten diesen. So kam hier Hans-Joachim Schiller alias „Hotte“ in einem fünfköpfigen Führungsteam in die Verantwortung. Er blieb bis 1975, und diese Zeit war für ihn schon richtig spannend. "Wir haben damals schon richtig große Konzerte mit der 'Spencer Davis Group' oder sogar #Klaus Doldingers Passport# hier nach Radolfzell geholt – mit vollem Risiko unsererseits, denn nicht immer kamen genug Gäste."
"Sogar der junge Franz Xaver Kroetz kam auf unsere Einladung an den See, und die Weihnachtspartys, immer ab 22 Uhr am Heiligabend, waren legendär", sagt Schiller, dessen Augen fast so glänzen wie damals.

Die Grabenkriege gehörten dazu, denn in der Nachbarschaft hatten sich inzwischen die „Rocker“ in der „Drachenburg“ breit gemacht, in Singen drüben gabs das „Black Horse“ und das „Gambrinus“ oder den „Pferdestall“ als kommerzielle Angebote. Die Radolfzeller vermuteten im Leierkasten eine Drogenhöhle, doch da blieb man hart. „Wir kannten auch die 'Dealer' und es war klar: bei uns nicht!“ Und nebenher: Ein Stück weit war der „Leierkasten“ Vorbild für das spätere soziokulturelle Zentrum „G.E.M.S“ (so die damalige Schreibweise), denn die späteren „Gemsler“ Helmut Bürgel und Jochen Jordan gehörten zum Umfeld. „Überhaupt kann ich sagen, dass wir es alle zu was gebracht hatten, auch weil wir hier auch ganz viel gelernt hatten, wie das Leben geht, auch mit langen Haaren“, sagt Hans-Joachim Schiller.

1980 wurde der Leierkasten dann wirklich abgerissen. Und dann begann bald mit der Besetzung der alten Feuerwache eine neue Ära der Radolfzeller Jugendbewegung.

Portrait:

Name: Hans-Joachim Schiller

Alter: 72

Wohnort: Radolfzell

Lebensdaten: Nach dem Abitur Studium der Betriebswirtschaften, dann im Unternehmen HSS in Tuningen.

Mich verbindet mit der Region: Auch wenn ich weit weg den Arbeitsplatz hatte, blieb ich hier wohnen. Seit 2008 sogar wieder in Radolfzell. Weil es einfach Heimat ist.

Der Ort:

Foto: H. J. Schiller
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Selbst das alte Schild des Leierkastens hat eine kuriose Geschichte. Ein Unbekannter sicherte es sich beim Abbruch des Gebäudes und es war verschollen. Jahrzehnte später tauchte es in Markelfingen wieder auf.

Hans-Joachim Schiller war von 1971 bis 1975 im Führungsteam des „Leierkasten“ in Radolfzell, einem der ersten autonomen Jugendtreffs der Region überhaupt.  | Foto: Oliver Fiedler
Foto: H. J. Schiller
Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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