Leserbrief zur Klinikschließung
»Kahlschlag am Radolfzeller Krankenhaus«
Radolfzell. Zur geplanten Schließung des Radolfzeller Krankenhauses erreichte uns diese Stellungnahme:
»Die Weichen wurden nicht erst in den vergangenen fünf Jahren gestellt, sondern liegen 20 Jahre zurück. Wenn ein Haus aufrechterhalten werden soll, braucht es regelmäßige Investitionen und Modernisierungen. Um diese Notwendigkeiten wissen private Hausbesitzer ebenso wie Eigentümergemeinschaften. Im Falle des Krankenhauses am Standort Radolfzell wurden diese Investitionen seit den 2000ern nicht mehr getätigt. Nur unbedingt Notwendiges wurde noch gemacht. Mit der Schließung der für Kliniken generell wenig rentablen Geburtenstation 2017 wurde die Salami-Taktik fortgesetzt. Der Wegfall der Chirurgie im letzten Jahr – ein weiterer Dolchstoß.
Das Bundesland Baden-Württemberg ist bundesweiter Spitzenreiter bei den Krankenhausschließungen. Die Bettendichte in Baden-Württemberg ist die niedrigste unter allen Bundesländern. Die Folgen von Schließungen werden vielen BürgerInnen erst klar, wenn sie selbst in die Lage kommen, ins Krankenhaus zu müssen und lange Anfahrtswege sowie Wartezeiten von mehr als einem halben Tag in der Notaufnahme am eigenen Körper zu spüren bekommen.
Es sind die Steuergelder von Bürgerinnen und Bürgern, die in den Bau einer neuen Zentralklinik fließen. Und es ist eine Frage der Priorisierung, wofür Geld überhaupt ausgegeben wird. Geht es um eine solidarische Daseinsvorsorge vor Ort, geht es um die Bedürfnisse von PatientInnen oder geht es um einen gewinnorientierten Wirtschaftsbetrieb?
Zum Bericht über die Klinikschließung geht es hier:
Am Beispiel Dänemark zeigt sich, dass nicht alles Gold ist, was glänzt und man dort von einer Favorisierung der zentralen Krankenhausstrukturen wieder abrückt und zu kleineren wohnortnäheren Kliniken übergeht. Auch, weil die Kosten oftmals während der Bauphase explodieren und die kalkulierten Investitions- und Neubaukosten deutlich überschritten werden.
Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Radolfzell ist die Situation bitter: Nicht in allen Bereichen ist es möglich, nach Singen und/oder Konstanz auszuweichen. Menschen als Verfügungsmasse. Wertschätzung sieht anders aus. Lassen sich so Pflegekräfte zurückgewinnen oder junge Menschen in Ausbildung für diesen Beruf bringen? Ganz konkret: Auch Teilzeitkräften, die gestückelte Dienste am Morgen und Abend für wenige Stunden übernehmen, stellt sich die Frage, ob eine Anfahrt nach Singen oder Konstanz attraktiv und wirtschaftlich sinnvoll ist.
Vergessen dürfen wir bei allen Diskussionen nicht die Menschen: Pflegekräfte, TherapeutInnen und ÄrztInnen sind es, die ein Krankenhaus menschlich machen. Hier findet gerade ein Trauerprozess statt, nicht nur, weil das Radolfzeller Krankenhaus in weniger als vier Monaten beerdigt werden soll, sondern es ist auch eine Trauer um das kollegiale Miteinander, um eine Krankenhausgemeinschaft, die im Sinne von Patientinnen und Patienten immer ihr Bestes gegeben hat. Küchenpersonal, Reinigungskräfte, Hausmeister, Verwaltungskräfte – sie alle gehören zu dieser Krankenhausgemeinschaft, die im zweiten Halbjahr dann passé sein wird.
Es wirft sich schon die Frage auf: Was wollen wir uns als Gesellschaft leisten und wie gehen wir mit Menschen um? Unter dem Druck des jetzigen Fallpauschalensystems werden auch zukünftig weitere kleinere Kliniken geschlossen werden. Die stationäre Unterversorgung im ländlichen Raum ist die Folge. Wie wird der verfassungsrechtlich verankerte ›Anspruch auf gleiche Lebensverhältnisse aller BürgerInnen‹ umgesetzt?
Wann dämmert uns, dass wir uns gegen eine fortschreitende Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung und insbesondere der Krankenhäuser zur Wehr setzen müssen? Letzten Donnerstag im SWR-Rundfunk die Meldung: Krankenhäuser im Landkreis fürchten die Fasnets-Tage: Corona-Infektionen, Atemwegserkrankungen und Magen-Darm werden zunehmen. Die Bettenkapazitäten sind jetzt schon mehr als gut gefüllt …«
Heike Gotzmann, Arbeitnehmerseelsorge, Singen
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Autor:Redaktion aus Singen |
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