Videokonferenz auf Initiative des WOCHENBLATT
Erst Handwerk probieren statt gleich studieren

Handwerker Ausbildung | Foto: Die Titelseite für die Sonderseiten zum Thema Ausbildung beim Handwerk. swb-Bild: SWB/ Kroll
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Kreis Konstanz. Das Handwerk erweist sich in der Coronakrise als relativ krisensicher, sucht junge Leute und dabei sind beileibe nicht nur Handwerker, sondern auch Kopfwerker gefragt. Eine Karriere im Handwerk ist eine Perspektive für junge Leute in unsicheren Zeiten.

Und: das Handwerk sollte noch näher an Schüler*innen, Eltern und LehrerInnen herankommen, damit Schülerinnen und Schüler nicht nur vom Handwerk wissen, sondern das Handwerk auch probieren können. Das ist das Ergebnis einer Diskussionsrunde mit Handwerkern, Schulleitungen und Handwerkskammervertretern auf Zoom, zu der das Wochenblatt eingeladen hat. Anlass ist die Sonderbeilage in der Ausgabe 16, die Sonja Muriset (Kundenberatung) und Oliver Fiedler (Chefredakteur) erarbeitet haben. In der Runde sind Ideen entstanden, und wir sind gespannt, ob die eine oder andere davon umgesetzt wird.

Die These der Diskussion: In den allgemeinbildenden Schulen wird das Handwerk bei den Schülerinnen und Schülern eher als zweite Wahl gehandelt.

Die These hat sich in der Diskussion durchaus bestätigt, es hat sich aber auch gezeigt, dass die Erwartungen der Eltern hier sehr deutlich reinspielen und dass Schülerinnen und Schülern mehr Zeit zur Orientierung gegeben werden sollte, weil das Handwerk wirklich Perspektiven bietet und gerade wer praktisch veranlagt ist, muss sich nicht mit allzuviel Theorie herumquälen.

»25 bis 30 Prozent der Studentinnen und Studenten brechen ihr Studium ab«, sagt Hansjörg Blender, er ist Covorsitzender des Arbeitskreises Schule-Wirtschaft im Landkreis und Kreishandwerkermeister.
Die Einstellung manches Schulleiters und vieler Lehrerinnen und Lehrer ist: »Unsere Schüler studieren.« Das war die »Vorhaltung« des Moderators in der Debatte. Sabine Beck, Schulleiterin des Friedrich-Wöhler-Gymnasiums in Singen, sagt: Ja, das sei ein bisschen ein Problem. Das Gymnasium bilde natürlich zur Studierfähigkeit aus. Der Trend der Zeit sei, dass »wir viele Schülerinnen und Schüler an der Schule haben, von denen von Elternseite erwartet wird, sie sollen in einem Studium Fuß fassen, die aber dafür gar nicht geeignet sind, weil sie mehr Perspektiven in praktischen Berufen hätten«. Deshalb sei eine gute Vernetzung der allgemeinbildenden Schulen mit dem Handwerk sinnvoll und »ich würde mir die auch stärker wünschen«, so Beck.
Die Rektorin hält das, was das Gymnasium leistet, als nicht geeignet für handwerkliche Berufe. »Da müssen wir uns andere Dinge einfallen lassen.« Deshalb sei sie in der Diskussionsrunde dabei.

Bislang um Gymnasien weniger gekümmert

Hansjörg Blender sagt, dass man sich bislang um die Gymnasien weniger gekümmert hätte. »Wir kämpfen ja schon, um in der Realschule der Bildungspartner zu sein.« Über die Studienabbrecher und was man da tun könne, ja müsse, lohne es sich nachzudenken. Und er fügt hinzu: Die Lebensbildungsrendite sei im Handwerk gleichwertig wie bei Akademikern, natürlich auch, weil Handwerker früher anfangen mit Geld verdienen.
Maria Grundler, Vertreterin der Handwerkskammer Konstanz, spricht von guten Kontakten in die Gymnasien. 16 Prozent der jungen Handwerker hätten mittlerweile Hochschulabschluss, rund 40 Prozent im Handwerk hätten Realschulabschluss, 38 Prozent Hauptschulabschluss.
Für die Schulen habe man eigene Unterrichtsmaterialien (Name: Meisterpower) entwickelt. Derzeit sei schlimm, dass keine Pflicht-Praktika stattfinden könnten, auch wenn es natürlich freiwillige Praktika gebe.
Selbständigenzahlen steigen
Zum Verdienst im Handwerk führt sie aus: Wer ein Geschäft leite, Meister werde, könne im Handwerk auch richtig gut verdienen und die Zahl der selbständigen Handwerker steige im Kammerbezirk Konstanz. Zudem sei das Thema Work-Life-Balance im Handwerk mittlerweile auch schon längere Zeit Thema.

Sabine Beck sagt, sie kenne das Programm Meisterpower nicht. Sie glaube, dass man den jungen Leuten die praktische Arbeit zeigen müsse, dass sie erleben, dass da etwas entstehe, dass man danach ein Produkt habe »und das fehlt unseren Jugendlichen«. Junge Leute, die praktisch veranlagt seien, würden in der Schule in vielen Fällen jahrelang leiden. Die Berufsorientierung an Gymnasien (BOGY) sei viel zu kurz, »wir brauchen längere Praktika«. Für Steffen Wagenblast, Teil der Geschäftsführung der Firma Widmann GmbH in Singen, sei eine Woche BOGY (Berufsorientierung an Gymnasien) ausreichend, dass die jungen Leute sehen, um was es geht. Christian Keller, Konrektor an der Ten-Brink-Schule in Rielasingen, ergänzt, dass es Sinn mache, dass Lehrerinnen und Lehrer die SchülerInnen bei ihrem Praktikum besuchen.

Heute viel digitale Arbeit

Ingo Arnold, Geschäftsführer bei Kumpf und Arnold und Mitglied der Singener Handwerkerrunde, sagt, es gebe Berührungsängste zwischen Gymnasien und Handwerkern. Aber: Handwerk sei heute mehr als früher.
Das Handwerk lechze nach Personen, die Verantwortung übernehmen wollen und man brauche im Handwerk heute hochqualifizierte Menschen, die kommunikationsstark seien, die digital fit seien, die Marketing könnten und die ein komplexes Büro managen könnten. Und als Meister, der ja heute einem Bachelorabschluss ebenbürtig ist, dann noch zu studieren, sei gar kein Problem.
Steffen Wagenblast ergänzt: Handwerk sei heute viel digitale Arbeit, das Smartphone sei im Einsatz und was die Arbeit im Handwerk betreffe, sei eine große Wissenslücke bei Eltern und Lehrer*innen da.
Kim Kroll vom Singener Wochenblatt fragt, ob man nicht viel früher anfangen müsse, den Kontakt zwischen jungen Menschen und Handwerk zu schaffen, im Kindergarten oder in der Grundschule.
Maria Grundler gibt Kim Kroll recht. Da gebe es Möglichkeiten für Schulen über Bildungspartnerschaften, momentan auch digital. Dann würden zum Beispiel in Klasse sieben Uhren im Technikunterricht gebaut. Konrektor Christian Keller berichtet von seiner Ten-Brink-Schule in Rielasingen von 20 Bildungspartnerschaften. Die seien Gold wert. Berufsbilder, sagt Keller, könnten jährlich und sehr früh vermittelt werden.

Eltern und Lehrer mehr einbeziehen

Werner Gohl erster Sprecher von der Handwerkerrunde Singen, sagt, derzeit liege der Fokus vor allem auf den Realschulen. Das Handwerk habe vor allem das Problem, dass es Vorurteile gebe und zu   wenig Wissen, was Handwerk heute wirklich bedeute.
Gohl sagt: Zusätzlich zu den Schülrinnen und Schüler müsse man die Eltern besser informieren, was man mit so einem handwerklichen Abschluss alles tun könne. Und die Anforderungen im Handwerk seien gestiegen.
Wie kann man die Eltern und auch die Lehrer adressieren? Hansjörg Blender sagt, in Konstanz sei ein pädagogischer Tag angeboten worden, an dem Lehrerinnen und Lehrer einen Tag in Handwerksbetrieben waren, das war interessant, weil ein wirklicher Bezug hergestellt worden sei. Steffen Wagenblast findet das eine sehr gute Idee, die Lehrer*innen einen Tag im Handwerk selbst schnuppern zu lassen. »Damit die sehen, was im Handwerk heute gemacht wird.« Christian Keller ergänzt, dass an der Ten-Brink-Schule seit 15 Jahren Bildungsmessen stattfinden würden, zu denen auch die Eltern eingeladen seien.
In den Pfingstferien könne man sich um Praktikumsplätze kümmern. Das sei eine Chance für Jugendliche, Betriebe könnten ja auf Covid 19 testen, in seinem Betrieb bietet Blender das an. Maria Grundler fügt hinzu: Es gebe Elternabende nach den Praktika, zu denen Ausbildungsbotschafter*innen kommen würden.
Schulleiterin Sabine Beck sagt, Studium und Akademiker zu sein, sei für viele das Höchste, was man in diesem Land erreichen könne, und wenn man da ausschere, werde das als Rückschritt empfunden. Das sei der Punkt, an dem man arbeiten müsse. Denn es sei eben kein Rückschritt, ins Handwerk zu gehen, wenn einem das liege, es gehe um Kinder, die das finden, was ihren Stärken entspricht.
Was die Lehrerinnen und Lehrer anbelange: Sie selbst habe persönlich Berührungspunkte mit dem Handwerk, viele Kolleginnen und Kollegen aber nicht. Und es werde leider öfter vermittelt: »Das wird hier nichts am Gymnasium, mach doch eine Lehre.« Das sei die falsche Botschaft. Deshalb sei es gut, auch Lehrerinnen und Lehrer fortzubilden, was die Chancen und die heutige Arbeitswirklichkeit im Handwerk angehe.

Idee eines Chancenjahres wird geboren

Sabine Beck schlägt eine Gelenkklasse zwischen den Klassen zehn und elf vor mit zum Beispiel drei Praktika mit jeweils zwei bis drei Monaten, und zum Beispiel einem Auslandsaufenthalt. »Da würde ich es vielleicht verpflichtend machen, dass ein Praktikum davon im Handwerk stattfinden müsste. Das wäre effektive Berufsorientierung«, so Sabine Beck. Ein Gedanke, der in der Runde gut ankam.
Der Name schien noch etwas sperrig. Hansjörg Blender schlug Chancenjahr als Name vor, mit der Chance, dass sich die jungen Menschen selbst ausprobieren und erkunden können. Könne man das hier regional umsetzen? Maria Grundler von der Handwerkskammer glaubt, dass das durchaus funktionieren könne, da müssten sich Partner zusammenfinden und das wäre durchaus ein spannendes Projekt.

Mehr Berührungspunkte schaffen und daheim reden

Werner Gohl denkt, dass es in den späteren Klassen wichtig wäre, dass Jugendliche Ideen bekommen, was ihre Stärken sind. In der Ten-Brink-Schule sei ein Assessmentcenter bereits Teil der Berufsorientierung. Und: Berührungspunkte schaffen, sagt Sabine Beck: Die Kfz-Mechatronikerklassen seien voll, weil die Jungen Berührungspunkte mit Autos sowieso haben, aber zu anderen Gewerken gebe es die eben nicht.
Hansjörg Blender sagt: Jetzt Anfang April sei es wichtig, dass Eltern, Lehrer und Kinder miteinander reden, ob das Handwerk eine Perspektive wäre: Auch eine Lehre ist ein wichtiger Baustein fürs Leben, auf dem sich ein Berufsleben aufbauen lässt, auch eines mit waschechter Karriere. Mit einer Ausbildung im Handwerk, so Maria Grundler, stünden alle Wege offen und die Lehre ist Lebensschule, denke man nur an die Walz der Zimmerer.
Und Sabine Beck gibt noch einmal zu bedenken, dass es kein Abstieg ist, wenn ein Kind aus einer Akademikerfamilie ein Handwerk erlerne. Das sei eine gesellschaftliche Aufgabe. Ein Ausstieg in der zehnten Klasse sei kein Scheitern, es sei eine bewusste Entscheidung für einen anderen, besseren Weg. »Wir müssen gesellschaftlich Raum schaffen, dass sich Kinder und Jugendliche ausprobieren können« – auch im Handwerk, möchten wir anfügen.
<em>Von: Anatol Hennig</em>

Autor:

Anatol Hennig aus Singen

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