Bürgermeister Marian Schreier im Interview mit dem Wochenblatt
Aufenthaltsqualität statt Digitalisierung
Tengen/ Region. Stellt Corona eine Gefahr für die Lokalen Welten dar? Was kann die Politik tun um die Ortskerne und Innenstädte lebendig zu halten? Und wie können wir wieder gut aus der Krise herauskommen? Über diese und weitere Fragen sprach das Wochenblatt im Interview mit Tengens Bürgermeister Marian Schreier.
Wochenblatt: In den letzten Monaten konnte man das Gefühl bekommen, dass die regionalen Welten an Bedeutung verlieren. Die Politik, die uns hier vor Ort betrifft wurde in Berlin gemacht und große Online-Konzerne ohne regionalen Bezug sind die Profiteure der Krise. Haben Sie Angst, dass die lokalen Welten auf Dauer an Bedeutung verlieren?
Marian Schreier: Diese Einschätzung würde ich so nicht teilen. Mit Blick auf Wirtschaft und Handel mag das zwar zutreffen, aber ich glaube mit Blick auf die Politik stimmt sie nicht. Natürlich ist es so, dass die grundlegende Richtung durch die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und –chefs der Länder vorgegeben wird, aber Infektionsschutz ist nun mal zum ganz überwiegenden Teil Aufgabe der Länder. Vollzogen wird er dannzum ganz überwiegenden Teil von der kommunalen Familie. Deshalb würde ich sogar sagen, das Gegenteil ist der Fall. Denn das bringt auf der lokalen Ebene eine sehr große zusätzliche Verantwortung. Deshalb habe ich auch keine Sorge, dass es da zu einer, wie auch immer gearteten, Beeinträchtigung der kommunalen Demokratie kommen könnte. Was Wirtschaft und Handel angeht, also konkret die Frage nach den Innenstädten, stimmt es natürlich. Die Online-Händler sind die großen Profiteure, wobei es natürlich auch lokale Unternehmen gibt, die Online schon gut aufgestellt sind. Aber es ist richtig, dass die Pandemie gewisse Entwicklungen verstärkt hat, die vorher schon da waren. Man wird sich jetzt intensiv darum kümmern müssen, dass wir auch nach Corona noch lebendige Ortskerne und Innenstädte haben. Das wird eine ganz wichtige Aufgabe aus meiner Sicht.
Wochenblatt: Was können die lokalen Verwaltungen tun, um dazu beizutragen, dass die Ortskerne und Innenstädte lebendig bleiben?
Marian Schreier: Die Städte und Gemeinden spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Der Schlüssel um den Handel, gerade die inhabergeführten Geschäfte, zu erhalten sind lebendige Innenstädte. Es geht darum, dass wir uns dort gerne aufhalten. Eine Sache, die die Digitalisierung niemals ersetzen wird, ist Aufenthaltsqualität. Das heißt, man muss massiv in Aufenthaltsqualität investieren. Das beginnt bei Bodenbelägen, geht über eine ansprechende Platzgestaltung mit Begrünung, Wasser und Sitzgelegenheiten bis hin zu einer Bespielung des öffentlichen Raumes mit Kunst und Kultur. Das sind Dinge, die Menschen in die Innenstädte ziehen. Und den Rahmen dafür zu gestalten – das ist Aufgabe der Städte und Gemeinden. Allerdings werden wir das nicht alleine leisten können, denn auch wir sind durch die Pandemie wirtschaftlich getroffen. Das heißt, dass Bund und Land auch hier gefordert sind, die Städte und Gemeinden finanziell zu unterstützen. Ich könnte mir beispielsweise einen Fonds oder ein Förderprogramm für lebendige Innenstädte vorstellen. Man könnte beispielsweise ein Sonderprogramm im Rahmen der Städtebauförderung starten, in dem man genau solche Projekte fördern und finanzieren kann.
Wochenblatt: Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang zu dem Vorstoß von Andreas Jung, für die großen Online-Händler eine Paketabgabe einzuführen, die einem Fonds für lebendige Innenstäte zugutekommen soll?
Marian Schreier: Ich finde, man muss das ein bisschen differenzierter diskutieren. Die Online-Giganten, und damit meine ich jetzt nicht nur Handelsplattformen wie Amazon, sondern auch Facebook, Google und andere müssen insgesamt an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden. Das sind sie heute noch nicht, weil sie sich in großen Teilen der Besteuerung entziehen. Das müssen wir ändern. Das ist also eine grundsätzliche Frage von Besteuerung globaler Internetkonzerne, aber in diesem Rahmen kann man durchaus auch über so etwas wie eine solche Paketabgabe diskutieren.
Wochenblatt: Wahrscheinlich laufen bei Ihnen viele Gewerbetreibende und Gastronomen auf, die aktuell Existenzängste haben, weil sie Ihre Geschäfte und Gaststätten geschlossen halten müssen. Wie nehmen Sie deren Situation wahr und haben Sie das Gefühl, dass die Staatshilfen ausreichend sind?
Marian Schreier: In Tengen haben wir nicht so viel Handel, aber ich erlebe natürlich massiv, wie sehr die Gastronomie und auch Dienstleistungsbetriebe wie z.B. die Friseure von der aktuellen Situation getroffen sind. Insgesamt finde ich, dass in der ersten Phase der Krise die Reaktion sehr gut war und Hilfen schnell ausgezahlt wurden. Das habe ich auch so vernommen von Gewerbetreibenden. In der zweiten Welle ist die Auszahlung deutlich schleppender gelaufen, was meines Wissens mit technischen und administrativen Fragen zusammenhängt. Da würde ich mir auch wünschen, dass es schneller geht. Ich halte jedoch insgesamt den Ansatz und die Ausgestaltung der Hilfen für richtig. Wenn wir da einen Vergleich zu anderen Ländern ziehen, beispielsweise zu unseren Nachbarn in der Schweiz, dann ist das bei weitem mehr. Die Schweiz hat kein vergleichbar dimensioniertes Hilfsprogramm.
Wochenblatt: Sie haben bereits angesprochen, dass die Krise auch Städte und Gemeinden wirtschaftlich trifft. Wie steht es denn aktuell um die Finanzen der Stadt Tengen?
Marian Schreier: Die Kommunale Familie ist massiv getroffen. Wir sehen das auch in unserem Haushalt. Erst kürzlich haben wir den Haushalt für 2021 verabschiedet und auf der Einnahmenseite rechnen wir mit deutlich weniger Gewerbesteuer, weniger Einnahmen aus der Einkommenssteuer und weniger Zuweisungen von Seiten des Landes. Auf der Ausgabenseite haben wir gleichzeitig steigende Kosten etwa durch Hygienemaßnahmen, beispielsweise die Beschaffung von Masken für unsere Erzieherinnen und Erzieher. Aber auch die Kreisumlage wird steigen, denn der Kreis wird ebenfalls insgesamt weniger Einnahmen haben und muss sich irgendwie finanzieren. Deswegen ist der Ergebnishaushalt 2021 auch nicht ausgeglichen. Die Finanzexperten des Gemeindetags gehen davon aus, dass wir erst 2024 mit den Steuereinnahmen wieder auf dem Vorkrisenniveau sein werden.
Wochenblatt: Sie haben im vergangenen Jahr für den Posten des Oberbürgermeisters von Stuttgart kandidiert. Gibt es etwas, was Sie in dieser Phase, sozusagen durch den Blick von außen, über unsere Region gelernt haben?
Marian Schreier: Neu gelernt würde ich nicht sagen, aber mir ist erneut bewusst geworden, dass es in Baden-Württemberg unsere große Stärke ist, dass wir in der Fläche sehr stark aufgestellt sind. Wir haben große Unternehmen, aber auch Forschung, Wissenschaft und Kultur nicht nur in den großen Ballungszentren, sondern auch in der Fläche verteilt, gerade im Bodenseeraum oder im Landkreis Konstanz. Da denke ich beispielsweise an die Uni Konstanz und die HTWG, aber auch an das Kulturangebot mit Färbe, Gems, Kunstmuseum und MAC-Museum in Singen beispielsweise, bis hin zu großen wirtschaftlichen Playern. Wie gesagt, waren das keine neuen Erkenntnisse, aber es hat meine Ansicht bestärkt, dass es eben beides braucht, zum einen große Metropolregionen, zum anderen die Stärke in der Fläche.
Wochenblatt: Im Stuttgarter Wahlkampf haben Sie ja auch unmittelbar selbst Erfahrungen gemacht mit einer anderen Entwicklung, die sich in den letzten Jahren schon gezeigt hat, aber durch die Krise scheinbar nochmals verstärkt wurde: Der Ton in der Gesellschaft wird insgesamt rauer und es scheint auch die Hemmschwelle für Tätlichkeiten zu sinken. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Marian Schreier: In der Tat ist der Ton in der öffentlichen Diskussion in den letzten Jahren rauer geworden. Das hat sich auch schon bei anderen Themen wie beispielsweise der Aufnahme von Geflüchteten oder dem Klimawandel gezeigt. Das halte ich für eine bedenkliche Entwicklung, besonders, wenn es gezielt durch politische Akteure befeuertwird. Manche nutzen das nämlich auch strategisch und das muss man unbedingt deutlich kritisieren. Dann ist es so, dass es eine gewisse Spaltung in der Gesellschaft gibt. Das zeigt sich an einer Reihe von politischen Großthemen, die zunehmend polarisiert diskutiert werden. Bei denen man das Gefühl hat, dass es nur noch die Positiontotal dafür oder total dagegen und nur noch wenige Schattierungen dazwischen gibt. Eine abschließende Erklärung warum das so ist, habe ich auch nicht. Aber es ist auf jeden Fall ein großes Problem, denn sehr viele politische Lösungen bewegen sich eigentlich jenseits der beiden Extrempole. Deshalb muss man versuchen, nicht immer nur schwarz weiß zu denken, sondern auch neue Wege zu gehen. Diese Entwicklung hat sich während Corona verstärkt gezeigt, wobei ich nach wie vor glaube, dass die allermeisten Menschen die Corona-Maßnahmen mittragen.
Wochenblatt: Haben Sie eine Idee, was die Politik tun kann, um dieser Spaltung entgegenzuwirken?
Marian Schreier: Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass man das, was man politisch vorhat, gut erklärt und kommuniziert. Außerdem müssen wir auch mit den Gruppen, die das ganze kritisch begleiten, im Gespräch seisn. Insgesamt ist uns das glaube ich in der ersten Phase der Pandemie gut gelungen. Da war auch die Zustimmung zu den Maßnahmen sehr hoch. Diese ist zwar immer noch relativ hoch, aber nicht mehr ganz so ausgeprägt. Und ich glaube, das liegt auch an der politischen Kommunikation, die nicht mehr so klar ist wie in der ersten Phase. Momentan gibt es oft ein Nebeneinander von Positionen, man denke nur an das Wirrwarr der Landesregierung zu Schulen und KiTas. Man hat auch nicht wirklich klar kommuniziert, was ist das Ziel, was ist die Strategie, wohin wollen wir mit den Maßnahmen jetzt kommen? Klar wird die Sieben-Tage-Inzidenz von 50 genannt. Aber warum ist das so? Da müsste man immer wieder erklären, dass das der Wert ist, ab dem wieder eine umfassende Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter möglich ist und dass wir auch mit anlaufenden Impfungen niedrige Fallzahlen brauchen, weil sonst bei Lockerungen im Sommer die Explosion der Infektionszahlen droht. Wenn man klar macht, was das Ziel ist, dann kann sich eine Gesellschaft dahinter versammeln. Das ist die große Kommunikations- und Führungsaufgabe der Politik
Wochenblatt: Was ist Ihrer Meinung nach sonst noch wichtig, damit wir wieder gut aus der Krise herauskommen?
Marian Schreier: Es muss als oberstes Ziel darum gehen, dass wir aus der Einschränkung der Grundrechte so schnell wie möglich wieder herauskommen. Das gelingt nur, wenn wir die Infektionslage und das Thema Impfen in den Griff bekommen. Im Moment sind die Infektionszahlen rückläufig – das ist gut. Ich halte die aktuellen Beschränkungen, die bis zum 14. Februar dauern, für richtig Man wird aber auch danach nicht schlagartig alles wieder öffnen können. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang noch, die Kontaktnachverfolgung zu verbessern. Diese Prozesse müssen endlich durchgängig digitalisiert werden. Wir waren in Deutschland aus meiner Sicht letztes Jahr im Spätsommer mit einigen Vorbereitungen schlicht und einfach zu langsam. Insbesondere was die Digitalisierung der Kontaktnachverfolgung, aber auch die Digitalisierung der Schulen betrifft. Wir müssen also die Infektionslage in einen Bereich bringen, der beherrschbar ist. Dafür wird es weiterhin Beschränkungen brauchen. Gleichzeitig müssen wir besser werden in einigen Bereichen, wie der Kontaktnachverfolgung, flächendeckenden Schnelltests, aber auch bei den Impfungen. Da liegt es allerdings im Moment nicht an der Vorbereitung der Kommunen. Das Kreisimpfzentrum in Singen steht bereit, es fehlen einfach die Impfdosen. Wenn wir das alles auf die Reihe bekommen, werden auch alle Grundrechtseinschränkungen enden. Und es gibt da gar keine Frage, wir werden an den Punkt kommen, wo wir wieder alle Rechte und Freiheiten haben.
Wochenblatt: Die Krise hat viele Veränderungen und viel Neues gebracht und manche Entwicklungen beschleunigt. Gibt es irgendetwas, wovon Sie sagen würden, dass sie es gerne für die Zeit nach der Krise behalten würden?
Marian Schreier: Wichtig ist, dass wir jetzt nicht nur kurzfristige Hilfsmaßnahmen ergreifen, sondern, dass wir damit auch einen Beitrag zu langfristigen strategischen Ziele leisten, wie lebendige Innenstädte oder die Bekämpfung des Klimawandels. Dann wurde natürlich die Digitalisierung beschleunigt, und da wünsche ich mir, dass wir das grade im öffentlichen Bereich mitnehmen und darin noch besser werden. Es hat sich auch gezeigt, wie wichtig öffentliches und staatliches Handeln ist. Wir haben die Pandemie überhaupt nur in den Griff bekommen, weil wir einen funktionierenden Staat haben, vom Bund bis zu den Städten und Gemeinden. Diese Erkenntniss zu erhalten: „Wenn wir gemeinsam handeln, können wir große Dinge erreichen“, halte ich für sehr wichtig. Denn diese Überzeugung werden wir brauchen, um große Themen wie die Bekämpfung des Klimawandels anzugehen. Mit anderen Worten: Die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig eine funktionierende Daseinsvorsorge ist. Dass es einfach Dinge gibt, die wir als Gemeinwesen gemeinsam organisieren müssen. Dinge wie das Gesundheitswesen beispielsweise. Deshalb müssen wir die Säulen des Gemeinwesens, wie z.B. die Pflegerinnen und Pfleger, auch mehr wertschätzen und besser bezahlen.
Wochenblatt: Was macht Ihnen in diesen schwierigen Zeiten Mut?
Marian Schreier: Ich bin grundsätzlich Optimist. Deswegen neige ich auch aktuell nicht zu Schwermut, wenngleich ich mir bewusst bin, dass ich in einer extrem privilegierten Position bin. Wenn ich da an Gastronomen oder Kulturschaffende denke, die seit einem Jahr nicht mehr arbeiten dürfen, sähe das sicher anders aus. Was mir aber trotz allem Mut macht ist, zu sehen, dass in der Krise viele neue Ideen entstanden sind, dass sich Menschen zusammentun um zu Experimentieren und neue Dinge auszuprobieren. Dieses Engagement schafft Zuversicht, dass wir da auch gut wieder rauskommen.
- Dominique Hahn
Autor:Redaktion aus Singen |
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