Nellenburg-Gymnasium: Gesellschaft im Brennglas
Wenn das System blockt...
Stockach (sw). Es sind nur wenige Augenblicke. Kostbare Augenblicke. Augenblicke der Lebensfreude, der Selbstbestimmung, der Würde. Als die Patienten eine Party feiern. Als sie Kameradschaft erleben. Als sie ausgelassen Basketball spielen. Die grau-monotone Einheitsanstaltskleidung ist verschwunden, ist bunt-individuellen Sportdressen gewichen. Eine kleidsame Veränderung. Doch es sind nur wenige Augenblicke. Dann schwingt Machtmensch Schwester Ratched wieder das Zepter und die Peitsche. Fein nuanciert, zurückhaltend inszeniert, klug pointiert ist die Aufführung von „Einer flog über das Kuckucksnest“, das die Theater-AG des Stockacher Nellenburg-Gymnasiums drei Mal in der neuen Aula der Schule auf die Bühne brachte.
Die Darbietung kommt ohne große Gesten aus, kleine Fingerzeige und Handreichungen genügen. Regisseurin Beate Spöther-Weber lässt die kraftvolle Handlung für sich sprechen und setzt ganz auf die Darstellungskraft ihrer Akteure. Eine gute Entscheidung. Denn Robin Funk als renitenter Randle P. McMurphy und Samantha Rasch als unterkühlte Schwester Ratched schreien durch ihr kontrastierendes Wesen, ihre Gegensätzlichkeit, ihren verbissenen Machtkampf die Botschaft des Stückes laut hinaus – Eigenverantwortlichkeit gegen Fremdbestimmung, unbekümmerte Daseinsfreude gegen strenges Reglement, herzliche Kameradschaft gegen menschenverachtenden Kontrollwahn.
Der Mikrokosmos Psychiatrie wird zum Makrokosmos Gesellschaft und Staatswesen: Ein tyrannischer Einzelner terrorisiert diktatorisch die Massen, und Rollen, Werte und Ethik verschieben sich. Wer ist gesund? Wer ist krank? Wer ist der Psychopath? Wer der Normale? Das Bühnenbild spiegelt die soziale Zweiteilung und das Verhältnis Herrscher und Beherrschte gut wieder – erhaben im abgetrennten Glaskasten das Klinikpersonal, draußen vor der Tür die Kranken. Eigenartige, aber liebenswürdige Charaktere. Sehr menschlich. Mitleid erregend. Gut verkörpert von den Mimen der Theater-AG. Gut getroffen, bis hin zu den grau geschminkten Augen. Unter ihnen Häuptling Bromden (Matthias Romahn), der sozialkritisch auf die Verfolgung und Verelendung der „First Nations“, der Ureinwohner, in den USA aufmerksam macht.
Sein verschlossenes Wesen kann sich McMurphys eindringlich-aufdringlich in Szene gesetztem, lässig dandyhaftem Charme nicht verschließen – der Introvertierte taut auf. Und er ist es auch, der den Triumph des Bösen schmälert. McMurphy wird zwar vom System, von Herrschaftsstrukturen, von der Macht zer- und gebrochen, doch dem Häuptling gelingt die Flucht aus der Anstalt. Chancen auf ein neues Leben ohne Unterdrückung.
Auflehnung kann Erfolg haben, fordert aber auch Opfer, suggeriert das Stück, mit dessen schwerem Sujet sich das „Nellenburg-Gymnasium“ auf ein unebenes Terrain begeben hat. Doch auf diesem wackeligen Terrain kann es dank seiner Leistung bei der Darstellung von „Einer flog über das Kuckucksnest“ hoch erhobenen Hauptes fest stehen.
Weitere Aufführungen von "Einer flog über das Kuckucksnest" sind am Samstag, 16. März, um 19.30 Uhr und Sonntag, 17. März, um 19 Uhr in der neuen Aula des "Nellenburg-Gymnasiums" in Stockach.
- Simone Weiß
Autor:Redaktion aus Singen |
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