WOCHENBLATT-Interview mit Sabine Freiheit vom Kinderdorf
Eine etwas andere Familie
Stockach. Im Pestalozzi-Kinder- und Jugenddorf in Wahlwies wurde das 20. Familienhaus der Einrichtung mit einem Festakt für geladene Gäste eingeweiht. Dazu ein Gespräch über Funktion, Strukturen und Arbeitsweise mit Kinderdorf-Pressefrau Sabine Freiheit.
WOCHENBLATT: Wer lebt in dem neuen Familienhaus?
Sabine Freiheit: In unserer Einrichtung wollen wir den Kindern familienanaloge Strukturen bieten. Darum lebt in den Häusern jeweils ein Paar, das bis zu sieben Kinder betreut, die aus unterschiedlichen Gründen wie Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung nicht mehr in ihren Ursprungsfamilien leben können. Falls vorhanden, wohnen in unseren Familienhäusern auch die leiblichen Kinder des betreuenden Paares.
WOCHENBLATT: Sie reden von »familienanalogen Strukturen«. Welche Vorteile sehen Sie in dieser Art der Betreuung?
Sabine Freiheit: Kinder, vor allem wenn sie noch kleiner sind, sind am besten in einer verlässlichen Betreuung untergebracht, die den Bedingungen in einer ›richtigen‹ Familie möglichst gleichen soll. Das ist nicht immer gewährleistet, wenn die Bezugspersonen alle acht Stunden wechseln. Wichtig ist dabei aber, dass die Kinderdorfeltern nicht als Ersatz für die Ursprungsfamilien angesehen werden – und darauf wird strikt geachtet. Soweit das möglich ist, wird der Kontakt zu den Eltern gehalten. Ob und in welchem Maße dieser Kontakt aufrecht erhalten wird, wird in sogenannten Hilfeplangesprächen regelmäßig überprüft. Das längerfristige Ziel bei der Betreuung ist, wenn es die individuelle Situation zulässt, die Rückführung in die Ursprungsfamilie.
WOCHENBLATT: Das bedeutet, dass Kinderdorfeltern 24 Stunden am Tag im Einsatz sind. Ist das nicht eine enorme Belastung?
Sabine Freiheit: Die Kinderdorfeltern müssen zwingend eine pädagogische Ausbildung haben, somit sind Fachkenntnisse auf jeden Fall vorhanden. Und jede Kinderdorffamilie erhält Unterstützung durch eine pädagogische Fachkraft, die an 40 Stunden in der Woche zur Verfügung steht und auch einmal eine Vertretung übernehmen kann. Durch unser Personal im Kinderdorf gibt es außerdem Hilfe bei der Reinigung des Hauses, bei der Wäsche und der Zubereitung der Mahlzeiten. Unsere Kinderdorfeltern haben freie Tage und Urlaub, und sie müssen die Selbstdisziplin aufbringen, sich eigene Freiräume zu schaffen. Dann bieten wir Supervisionen für ihre anstrengende Tätigkeit an, und es gibt ein betriebliches Gesundheitsmanagement zum Ausgleich. Wir haben im Gegensatz zu anderen Einrichtungen aktuell weniger Probleme, Kinderdorfeltern zu finden.
WOCHENBLATT: Wie wird sichergestellt, dass es den Betreuten in den Kinderdorffamilien gut geht?
Sabine Freiheit: Wir haben hier ein offenes System. Die Kinder besuchen Kindergärten und Schulen oder absolvieren eine Ausbildung, außerdem werden sie in verschiedenen Therapien im Kinderdorf betreut. Wir haben eine Mitarbeiterin, die als vertrauliche Ansprechpartnerin für die Kinder fungiert, fünf Erziehungsleiter sind als Vorgesetzte der Kinderdorfeltern regelmäßig in den Häusern präsent, und die pädagogische Fachkraft, die unterstützend in der Kinderdorffamilie tätig ist, habe ich bereits erwähnt. Somit gibt es viele Menschen aus unterschiedlichen Bereichen, die sich um das Wohlergehen der Kinder kümmern.
WOCHENBLATT: Wie alt sind Kinder und Jugendliche, die in Kinderdorffamilien leben?
Sabine Freiheit: Säuglinge werden wegen des hohen Betreuungsaufwandes in der Regel nicht in Kinderdorffamilien untergebracht, denn für sie werden eher Pflegefamilien gesucht. Bis zum Alter von 18 Jahren läuft in der Regel die Jugendhilfe. Doch wenn ein Jugendlicher sich gerade in der Ausbildung befindet und noch nicht selbstständig leben kann, dann ist eine Verlängerung bis zum 21. Lebensjahr möglich. Das entscheidet letztendlich das zuständige Jugendamt.
- Matthias Güntert
Autor:Redaktion aus Singen |
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