Geschichte und Stimmen zur "Singemer" Migration
Ein Erfolgsgarant der Stadt

Giuseppe De Vita, eines der unzähligen Gesichter der Singener Migration, ist vor 52 Jahren als 20-Jähriger aus Salerno nach Singen emigriert. | Foto: Bernhard Grunewald
2Bilder
  • Giuseppe De Vita, eines der unzähligen Gesichter der Singener Migration, ist vor 52 Jahren als 20-Jähriger aus Salerno nach Singen emigriert.
  • Foto: Bernhard Grunewald
  • hochgeladen von Anja Kurz

Singen. Seit Jahrhunderten kennt Singen die Zuwanderung von Menschen aus nah und fern. Bereits vor gut 400 Jahren kamen Arbeitskräfte aus Vorarlberg, der Schweiz und Tirol, deren Familiennamen längst eingebürgert sind. Italienische Arbeiter ermöglichten den Bau der ersten Eisenbahn 1863 und blieben danach vor Ort. Sie trugen zum Aufstieg Singens bei, so beim Neubau der "Fitting"-Gießerei und dem Verlegen erster städtischer Grauguss-Wasserleitungen von Ehingen nach Singen 1903. Ab 1887 gab es Arbeit in der Maggi-Fabrik, ab 1895 in der "Fitting", ab 1912 auch in der Singener "Alu". Mädchen aus Italien kamen in die Textilindustrie und zur Maggi: 1907 wurde erstmals eine Italienerin in den neu gegründeten Maggi-Arbeiterausschuss gewählt.

Mit Kriegseintritt Italiens 1915 verließen die meisten Landsleute die Stadt. Singen erlebte im Zweiten Weltkrieg eine Migration der Gewalt: Kriegsgefangene und 3.000 Zwangsarbeiter aus vielen Ländern hatten bis 1945 darunter zu leiden, gefolgt von tausenden Flüchtlingen und Heimatvertriebenen nach Kriegsende. Begünstigt durch das "Wirtschaftswunder" und dem Abschluss von Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960), Türkei (1961), Portugal (1964) und dem damaligen Jugoslawien (1968) wurde Singen als starker Industriestandort "zur Ziehmutter des Hegau", wie Landrat Dr. Ludwig Seiterich (1954 bis 1968) zu Recht feststellte - Singen war von 1895 bis 1975 mit einem Bevölkerungswachstum von 1600 Prozent die am schnellsten wachsende Ortschaft in ganz Deutschland.

Beteiligung in der Gemeinschaft

Das gemeinsame fleißige Miteinander am Arbeitsplatz brachte Einheimische und Zuwanderer auch schrittweise enger zusammen: Die erste "Gastarbeiter"-Generation gründete Ende der 60er und 70er Jahre eigene Fußball- und Kulturvereine, welche sich zusehends am Stadtgeschehen und traditionellen Festen beteiligen konnten. "Kümmerer", unter anderem in Kirchen, Betrieben und im Gemeinderat, unterstützten deren stärkere lokale Einbindung und kulturelle Teilhabe.

Nach dem ersehnten Familiennachzug und dem Heranwachsen der zweite und dritten Generation sind wichtige Themen geblieben: Kindergarten, Schule, Wohnen, Arbeiten, Kultur und Sport, Sprache und Teilhabe an demokratischer Mitverantwortung vor Ort. Hier besteht Nachholbedarf, denn ausländische Arbeitskräfte durften erst ab 1968 an Betriebsratswahlen teilnehmen, EU-Unionsbürger erst ab 1992 an Kommunalwahlen - 35 Jahre nach dem ersten römischen EWG-Vertrag (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) von 1957.

VHS als Brückenbauer

Mit einigen Angeboten an Sprachkursen, auch zum Lernen der deutschen Sprache, kommt der Volkshochschule (VHS) ein nicht unbedeutender Anteil der Migration zu. Für Nikola Ferling, Vorstand VHS Landkreis Konstanz e.V., fördert das vielfältige Deutschangebot "jenseits aller Parolen die Entwicklung für ein ganzes Land". Laura Pacilli, VHS-Fachbereichsleiterin Grundbildung, Projekte und Kooperationen, kannte noch das "ungesteuerte Lernen" der ersten Gastarbeiter-Generation, schuf bereits Ende der 90er Jahre das Projekt "Figaro" für arbeitslose Migrant:innen und ist Originatorin eines Pilotprojektes am Bodensee, gering qualifizierten Erwachsenen zur Linderung des Fachkräftemangels einen beruflichen Aufstieg zu ermöglichen.

Miteinander in Singen

Gut 40 migrantische Organisationen kümmern sich heute um Anliegen und Bedarfe ihrer Landsleute, teils miteinander verbunden im Netzwerk "Wir in Singen" oder dem "Forum der Religionen". Längst sind zahlreiche Singener Vereine ein Spiegelbild der Vielfalt in der Stadt. Der heute 72-jährige Giuseppe De Vita zählte 1978 zu den Gründern des italienischen Kultur- und Sportvereins "A.C.R.E.I." und ist langjähriges Mitglied des Freundeskreises Pomezia. Er kam als 20-Jähriger nach Singen, arbeitete gut 46 Jahre im Schichtsystem bei der Fitting und bei Fahr in Gottmadingen. "Ich habe immer gearbeitet, immer Steuern bezahlt, war keinen Tag arbeitslos", so Da Vita. "Wir durften lange nicht mitwirken, also haben wir erstmal selber demokratische Vereine aufgebaut." Gemeinsam mit Carmen Trombino vom "Casa España", Mustafa Ates vom "Supermarkt Istanbul" und Alt-Apotheker Vassilios Danassis hofft auch De Vita auf ein künftig noch stärkeres Miteinander in Singen: "Für mich sind alle Menschen gleich, egal aus welchem Land - mich interessiert zuerst der Mensch. Gute und schlechte gibt es überall - aber besser ist, wir arbeiten und leben gut zusammen."

Giuseppe De Vita, eines der unzähligen Gesichter der Singener Migration, ist vor 52 Jahren als 20-Jähriger aus Salerno nach Singen emigriert. | Foto: Bernhard Grunewald
Autor:

Bernhard Grunewald aus Singen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.