Stehende Ovationen nach der Premiere von „Der Chronist“
„Spät, aber nicht zu spät“
Singen. So was ist im „Kino“ eher selten, doch nach der Premiere von „Der „Chronist“, dem Filmportrait von Marcus Welsch über den Singener Ehrenbürger Willi Waibel, erhob sich das Publikum in der zum Kino umfunktionierten Stadthalle, um den 90 Minuten, in die die Geschichte der Aufarbeitung so vieler Zwangsarbeiterschicksale komprimiert wurde, stehende Ovationen zukommen zu lassen. Für Minuten hielt der Applaus an, während sich vorne vor der Bühne die Akteure umarmten, sogar einer der Zeitzeugen war aus dem polnischen Lublin angereist gewesen.
„Der Film kommt spät, aber noch nicht zu spät“, unterstrick Marcus Welsch, der Filmemacher nach den vier Jahren seit dem Projektstart. Richtig sei natürlich, dass dieser Film hätte bereits von mindestens 20 Jahren hätte erschaffen werden müssen, damals als Willi Waibel noch viele Türen zu Archiven und Informationen verschlossen blieben und sich die Freundschaft der ehemaligen Feinde zwischen Singener und den ehemaligen Zwangsarbeitern entwickelte, die die Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel Singener Geschichte in Gang setzten. Das „Spät“ spürt man im Film durchaus, denn die Interviewpartner in der Ukraine und in Polen, die Welsch bei vier Reisen in das aktuell vom Bürgerkrieg geprägte Land, sind natürlich hochbetagt.
Marcus Welsch machte in seiner Einführung zum Film seine Dankbarkeit gegenüber vielen Menschen deutlich, angeführt von Willi Waibel, zu dem sich in dieser Zeit des „Drehs“ doch eine sehr respektvolle Freundschaft entwickelte, gegenüber dem Singener OB, der einfach gesagt hatte das er diesen Film wolle, nachdem viele Förderungstöpfe verschlossen blieben und auch die TV-Sender den Standpunkt vertraten, dass diese Geschichten vom Krieg auserzählt seien. Dr. Carmen Scheide, die in Sachen Parterschaft mit dem Ukrainischen Kobeljaki und Förderverein Theresienkapelle viel mehr als nur die Nachfolge Willi Waibels übernommen hat, ist nicht nur Adressatin herzlichen Danks sondern auch sozusagen „Mutter“ dieses Filmprojekts gewesen, für das sie selbst unermüdlich Förderungen einwarb.
Der Film selbst ist ein wirklich gelungenes Kunstwerk, in dem spürbar wird, wie nahe sich im Erzählen hier Willi Waibel als „Der Chronist“ und der Filmemacher gekommen sind. Schon in der ersten Szene wird auch der Zuschauer ins Archiv des Geschichtsforschers hineingelassen, der in den folgenden 90 Minuten noch viel mehr Einblicke in das Sellenleben eines Aufarbeiters der Geschichte der Zwangsarbeiter in der Zeit der Nazi-Herrschaft gewährt die zeitweise ein Sechstel der Stadtbevölkerung ausmachten. Und der auch die Mauern aufzeigt, vor denen Waibel zuweilen auch heute noch steht, wenn er zum Beispiel dem Nestlé-Historiker gegenüber sitzt, der bei seiner Distanz zur braunen Vergangenheit des Singener Maggi-Werks ganz gefühllos bleiben kann.
Über 500 Besucher hatte die Stadthalle für dieses denkwürdige Ereignis am Sonntagabend. Der Andrang war so groß, dass diese Premiere vom kleinen in den großen Saal verlegt wurde. Diese Premiere ist auch erst mal die einzige Möglichkeit gewesen, diesen Film zu sehen. Wie zu erfahren war, wird „Der Chronist“ erst mal nur auf einigen Festivals laufen, in der Hoffnung auf Preise oder Förderungen. Für Singen selbst ist „Der Chronist“ auf jeden Fall ein unglaublich wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Die aktuellen Geschehnisse erinnern in schmerzhafter Weise daran, dass sich viele der Dramen von „damals“ wiederholen; immer wieder, wie Marcus Welsch ebenfalls gemahnte, bevor er das Publikum mitnahm auf seine Reise zu Willi Waibel.
Mehr Bilder von der Premiere gibt es in unserer Galerie.
Autor:Oliver Fiedler aus Gottmadingen |
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