Schulden:
»Nicht hinschauen ist das Schlimmste ...«

Susanne Zimmermann ist für den Caritasverbund Singen-Hegau als Schuldnerberaterin tätig. Wer nicht sofort einen Platz in der Einzelberatung bekommt, kann in der offenen Telefonsprechstunde jeden Montag- und Mittwochvormittag Rat suchen. | Foto: ak
  • Susanne Zimmermann ist für den Caritasverbund Singen-Hegau als Schuldnerberaterin tätig. Wer nicht sofort einen Platz in der Einzelberatung bekommt, kann in der offenen Telefonsprechstunde jeden Montag- und Mittwochvormittag Rat suchen.
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Singen. Wem bei den aktuellen Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel nur bleibt zuzusehen, wie die finanziellen Rücklagen dahinschmelzen, wird sehr schnell mit tiefgreifenden Ängsten konfrontiert. Dass hiervon immer mehr Haushalte in existenziell bedrohlichem Ausmaß betroffen sind, zeigt sich im Ansturm auf die regionalen Tafeln, aber auch bei den lokalen Schuldnerberatungsstellen von Caritas, Diakonie und AWO: So übersteigen die Beratungsgesuche bei der Caritas Singen-Hegau deren Möglichkeiten bei Weitem, was sich bis ins nächste Jahr hinein noch weiter verschärfen wird.

Laut den Angaben des Caritasverbands ist dabei in beinahe 20 Prozent der Fälle Arbeitslosigkeit ausschlaggebend für die Schulden, dicht gefolgt von gesundheitlichen Gründen, einer unwirtschaftlichen Haushaltsführung, Verlust des Partners oder ein vermindertes Einkommen durch Kurzarbeit oder Ähnliches. Doch mit dem Kontostand enden die Auswirkungen der Schulden noch lange nicht, das Thema Geld ist noch immer stark tabuisiert, schambehaftet und angstbesetzt. Auch das restliche Leben der Betroffenen wird oft immens beeinflusst, manche isolieren sich zunehmend und nehmen mögliche Hilfen erst viel zu spät in Anspruch. Droht dann der Verlust der Wohnung oder wird der Druck aus dem persönlichen Umfeld, vom Gericht oder Arbeitgeber zu groß, begeben sie sich spätestens zu einer Beratungsstelle. Was dann zum (Wieder-)Erlangen der Schuldenfreiheit nötig ist und worin weitere Ursachen der steigenden Privatverschuldung liegen, ist zu lesen auf Seite 13.

Existenzielle Not

Für viele Menschen ist Geld gerade so knapp wie selten zuvor, eine Lage, die sich noch weiter zuspitzen wird. Dieser Art »existenzieller Nöte« begegne man auch bei der TelefonSeelsorge Schwarzwald-Bodensee vermehrt, berichtet deren stellvertretender Leiter Tobias Walkling auf Nachfrage – diese Kategorie taucht dort deshalb sogar seit Oktober in den Statistiken auf. Den Anrufern stellt sich dabei häufig die Frage: »Wie bekomme ich mein Leben organisiert und bezahlt?« Dass sich hier die einzelnen Fälle sehr unterschiedlich gestalten, unterstreicht auch Susanne Zimmermann stellvertretend für die Schuldnerberatung des Caritasverbands Singen-Hegau.

Das Klientel

Von Führungspersonen über RentnerInnen, von alleinstehenden Männern unter 35 Jahren bis hin zu Familien mit mehreren Kindern, das Klientel der Beraterin ist durchweg bunt gemischt. Während einige wenige schon bei Schulden von 2.000 Euro nach Rat suchen, liegen diese doch meist deutlich höher und erreichen Beträge von über 50.000 Euro. Sie fühlen sich häufig als Versager und nehmen aus Scham erst in der äußersten Not Unterstützung in Anspruch.

Corona-Schulden-Welle wird spürbar

So sieht sich Susanne Zimmermann in Singen erst jetzt den vielen Geschädigten aus der Corona-Pandemie gegenüber – egal ob durch Kurzarbeit oder eine gescheiterte Selbständigkeit. Dass die Ratsuchenden aktuell deutlich mehr werden, ist bei der Singener Caritas an den »Portalöffnungen« zur Vereinbarung eines Erstgesprächs zu sehen: Zuletzt konnte nur der Hälfte der Anrufer ein Platz bei der Schuldnerberatung angeboten werden, ein Termin sei also momentan frühestens im neuen Jahr möglich. Bei der Vergabe falle auch die jeweilige Dringlichkeit ins Gewicht. Wer sich aktuell in »gesicherten Lebensumständen« befinde, also nicht von Stromabstellung, Wohnungskündigung oder ähnlichen Konsequenzen bedroht ist, bekomme zunächst einen Platz auf der Nachrücker-Liste.

Hilfe annehmen

Die eigene Scham wiederholt überwinden zu müssen, wirke allerdings abschreckend auf viele Klienten. Zusammen mit Corona war dies Anlass, eine offene Telefonsprechstunde jeden Montag- und Mittwochvormittag einzurichten. »Hier versuchen wir immer, den Menschen direkt zu helfen. Dadurch möchten wir ihnen die Angst nehmen und zeigen, dass sie ernst genommen werden«, betont Susanne Zimmermann. Denn bei der »psychosozialen Schuldnerberatung«, wie sie Caritas und Diakonie in der Region anbieten, gehe es letztlich nie allein um die Schulden, sondern immer auch umdie Person dahinter: »Häufig spielen die Psyche, Job oder Familie eine Rolle. Das ist oft ein Teufelskreis.« Liegt zum Beispiel eine psychische oder eine Suchterkrankung vor, werden die Menschen auch dabei unterstützt und an entsprechende Stellen vermittelt. Kernanliegen der Caritas ist eine langfristige Schuldenfreiheit der Menschen und damit die »Hilfe zur Selbsthilfe«.

Fakten sortieren

Beim Erstgespräch geht es aber zuerst um die Fakten: Welche Einnahmen habe ich? Wie ist mein Ausgabeverhalten und was davon ist wirklich notwendig? Bekomme ich alle finanziellen Hilfen, auf die ich Anspruch habe, zum Beispiel Wohngeld? Wie hoch sind meine Schulden und um wie viele Gläubiger geht es? Wie genau kam es zu der Schuld?
Häufig verdrängen die Personen ihre Schulden lange, lassen Rechnungen ungeöffnet, bis eine Pfändung oder ähnliche Konsequenzen drohen – und suchen erst dann Unterstützung. Sie sind letztlich nicht mehr in der Lage, ihren Verpflichtungen nachzukommen, auch der Weg hinaus wird immer aufwändiger und zeitintensiver. Schon die ersten eintreffenden Mahnungen von den Gläubigern oder Inkassounternehmen zu offenen Beträgen können und sollten Anlass sein, Hilfe anzunehmen.
Dabei betont die Singener Schuldnerberaterin, dass eine Klärung vor Gerichtausschließlich nötig wird, wenn der Schuldner zusätzlich strafrechtlich aufgefallen ist. Als Beispiele nennt sie hier wiederholtes Schwarzfahren oder Betrug.

Hilfsmittel Haushaltsbuch

Oftmals fehlt den Schuldnern der Überblick über die eigenen Ausgaben und Einnahmen, eine wackelige Balance, die, wie aktuell durch die Inflation, schnell unter Druck oder außer Kontrolle gerät. Deswegen drängt Susanne Zimmermann jeden dazu, Hilfe in Anspruch zu nehmen, »bei allen Umständen, wo das gewöhnliche Einkommen verringertist« – oder die Ausgaben stark gestiegen sind, sonst könne jede Teuerung schnell existenziell werden. Im Laufe der Beratung schaffen sich die Klienten durch Anlegen eines Haushaltsbuchs ein Bewusstsein für die eigenen Finanzen und lernen so mit dem klarzukommen, was sie haben. Dabei spielen auch Verpflichtungen eine Rolle, die nur alle paar Monate fällig werden, oder sich häufende kleine Beträge, wie den morgendlichen Besuch beim Bäcker. Die Dokumente zu Gläubigern und Geldflüssen zu ordnen, ist eine Möglichkeit für die Schuldner, sich auf den ersten Termin vorzubereiten und den Prozess etwas zu beschleunigen. Das aktive Mitwirken des Klienten ist eine Grundvoraussetzung für eine langanhaltende Schuldenfreiheit.

Private Insolvenz als Notausgang

Sind die Unterlagen zu den Finanzen sortiert und die Schreiben von Gläubigern wie Banken und Mobilfunkanbietern dann geordnet, schreibt der oder die BeraterIn diese einzeln an. Je nach Fall können das mehr als 60 sein, meist handelt es sich jedoch um weniger als 20. Jeder Gläubiger bekommt ein Angebot zu einer monatlichen Rückzahlungsrate über einen festen Zeitraum, die Höhe der Rate ist von den Möglichkeiten des Klienten abhängig. Der resultierende Endbetrag kann dabei unter dem eigentlich ausstehenden liegen, es steht den Gläubigern frei, sich hier entgegenkommend zu zeigen und auf das Angebot einzugehen. Scheitert die Einigung, bleibt dieMöglichkeit einer Privatinsolvenz, wobei zu deren Aufnahme der Versuch einer vorherigen außergerichtlichen Klärung zwingend notwendig ist. Das Anmelden der Insolvenz sieht Zimmermann als wertvolle Chance: »Betroffene sind so nach einem festgesetzten Zeitraum von drei Jahren schuldenfrei«, denn nach Ablauf ist der Schuldner automatisch von der Restschuld befreit, egal wie viel er begleichen konnte.

Was die Berater tun können

Auf sich allein gestellt, scheitern die Schuldner an den unterschiedlichsten Punkten, einigen fehlt der Durchblick bei den eigenen Finanzen, andere haben wiederum Angst vor dem Kontakt zu den Gläubigern. Hier unterstützt die Schuldnerberatung bei der außergerichtlichen Einigung und der Eröffnung eines vor Pfändungen geschützen Kontos für weiterhin notwendige Ausgaben. Auch der Antrag auf Eröffnung der Privatinsolvenz als letzte Konsequenz erfordert die Hilfe von Rechtsanwälten, Notaren, Steuerberatern und eben staatlich anerkannten Schuldenberatungsstellen, wie die der Caritas oder der Diakonie. Hier betont die Schuldnerberaterin der Caritas: »Jeder Mensch ist so unterschiedlich, jedes Schicksal so individuell. Das Wichtigste ist, sich seiner Situation bewusst zu werden, daran selbst zu arbeiten, um künftig ein Leben ohne neue Verschuldung führen zu können.«

Ursachen klären, die Psyche schützen

Neben den Entwicklungen in der Gesamtwirtschaft liegen die individuellen Ursachen für die finanziellen Krisen häufig noch tiefer. So übernehmen wir zum Beispiel Überzeugungen zu Geld und dem Umgang damit von unseren Eltern und unserem sozialen Umfeld, erklärt Susanne Zimmermann. Zudem wird es durch kontaktlose Zahlungen, Kreditkarten und »0%-Finanzierung« immer einfacher Geld auszugeben – das böse Erwachen folgt erst mit Eintreffen der unbeglichenen Rechnungen. Materialismus bestimmt in unserer Gesellschaft oft das Zusammenleben, Selbstwert, Identität und Zugehörigkeiten werden immer mehr abhängig gemacht vom Besitz.
Leid, Ängste und Scham sind vorprogrammiert, wenn sich finanzielle Schwierigkeiten aufstauen, werden zunehmend existenzieller und gipfeln zum Beispiel in der Frage: »Wie kann ich meine Kinder ernähren?« Die große Scham und das Gefühl zu versagen führen immer häufiger auch zu Erkrankungen der Psyche oder ein Abrutschen in Suchtverhalten. Bisher waren in den Beratungen meist RenterInnen anzutreffen, deren finanzielles Gleichgewicht durch den Ausstieg aus dem Arbeitsleben zusammenbricht oder Langzeitarbeitslose, die ihre Situation als ausweglos betrachten. Momentan sieht Zimmermann eine Zunahme von jungen Männern unter den Schuldnern, häufig in Folge einer Trennung.

Höhepunkt erst Mitte 2023 erwartet

Dass bald (noch) mehr Menschen betroffen sein werden, ist für die Schuldnerberaterin klar. Für 2022 geht sie in vielen Haushalten von »schmerzhaften Nachzahlungen« aus, die sich in Kombination mit verringertem Einkommen während Corona und mangelnden Rücklagen heftig auswirken könnten. Ähnlich wie bei den jüngst durch die Pandemie betroffenen Personen, rechnet sie mit einer Verzögerung, bis sich das im Büro der Caritas bemerkbar macht. Ihrer Einschätzung nach könne das gegen Mitte 2023 der Fall sein. Dabei ist sie davon überzeugt, dass bereits jetzt viele Menschen Unterstützung gebrauchen könnten – sie aber nicht beanspruchen.
Um möglichst allen akut Hilfsbedürftigen zur Seite stehen zu können, beschränke man sich im Moment auf rein reaktive Maßnahmen wie die Telefonsprechstunde. Man wolle sehr gerne auch präventiv tätig werden, ist jedoch auf ein Entgegenkommen der Politik angewiesen, um beispielsweise frühzeitig in der Schule aufzuklären.

Schuldnerberatung in der Region

Caritasverband Singen-Hegau:
offene Telefonsprechstunde Montag und Mittwoch von 9 bis 11 Uhr unter 07731 / 96 970 230
E-Mail: schuldnerberatung@caritas-singen-hegau.de

Caritasverband Konstanz:
Telefon: 07531 / 1200 250
E-Mail: schuldnerberatung@caritas-kn.de

Diakonie Konstanz – Standort Radolfzell:
Telefon: 07732 / 952760
E-Mail: schuldnerberatung.radolfzell@diakonie.ekiba.de

Verschiedene Stellen der AWO Kreisverband Konstanz:
Stockach:
Telefon: 0176 / 43127199
Engen:
Telefon: 07733 / 2010
Singen:
Telefon: 07731 / 49839
E-Mail: claudia.rehling@t-online.de
Radolfzell:
Telefon: 07732 / 8233940
E-Mail: hannelore.gaeger@gmx.de

Weitere Anlaufstellen in kleineren Angelegenheiten sind die weiteren sozialen Dienste der genannten Einrichtung sowie Sozialarbeiter in Gemeinden, Schulen oder Kindergärten sowie FamilienberaterInnen in entsprechenden Zentren. Falls notwendig, wird hier auch eine Anbindung an eine Schuldnerberatung vermittelt.

»Droht eine Massenverschuldung?«

Banken rechnen für 2023 mit mehr finanziellen Problemen

Simon Winter, Sparkasse Hegau-Bodensee:
»Uns sind bei der Sparkasse Hegau-Bodensee noch keine finanziellen Härtefälle bekannt. Viele Kunden machen sich jedoch bereits Gedanken über Vorfinanzierung und Zinstilgung und haben jetzt schon eine vorsichtigere Herangehensweise, was das ganze Thema betrifft. Würden die finanziellen Probleme aufgrund der steigenden Energiepreise größer werden, ist mit der Zeit eine Sparfähigkeit seitens der Kunden nicht mehr gegeben. Bei Beratungsgesprächen wird deshalb darauf geachtet, dass man im Fall der Fälle mit den Kunden über die konkrete Haushaltsplanung spricht. Dabei versuchen wir, in fairen Gesprächen das optimale Ergebnis zu erreichen und den Kunden dabei in dieser Situation zu begleiten.«

Bernd Sartorius, Volksbank Überlingen:
»Laut unseren Auswertungen von 2021 und 2022 sind noch keine erhöhten Fälle, weder von Insolvenz noch von Pfändungen sowohl bei Firmen- als auch bei Privatkunden zu verzeichnen. In den Gesprächen erwähnen unsere Kunden ihre Sorgen in Bezug auf die Krisen. Grundsätzlich haben wir seit einigen Wochen für die Vergabe von Krediten unseren Rahmen, auch zum Schutz der Kunden vor Überschuldung, der Kapitaldienstfähigkeitsberechnung angepasst. Wir stellen fest, dass die Kunden ihre Sparraten reduzieren und ihre Daueraufträge für die Nebenkosten erhöhen. Die gestiegenen Lebenshaltungskosten, insbesondere die Energiekosten, werden mit einem erhöhten Abschlag eingerechnet.«

Kerstin Weise, TARGO Deutschland:
»Derzeit bewegen sich die meisten Risikoindikatoren auf einem unauffälligen Niveau. Dennoch kann ein Anstieg der Anzahl von Kundinnen und Kunden mit finanziellen Schwierigkeiten im restlichen Jahr 2022 nicht ausgeschlossen werden und erscheint für 2023 eher wahrscheinlich. Grundsätzlich stellen wir fest, dass in unsicheren Zeiten viele Kundinnen und Kunden vermehrt eine persönliche Beratung in der Filiale in Anspruch nehmen. Unabhängig von Corona- und Energiekrise legen wir großen Wert auf eine individuelle Einzelfallberatung, um gemeinsam mit dem Kunden bzw. der Kundin Lösungen zu finden.«

Thomas Huber, Die Gestalterbank:
»Wir erleben aktuell im Privatkundenbereich noch keine finanziellen Notfälle oder Härtefälle, beobachten aber, dass Kunden ihre finanziellen Reserven ›angreifen‹ müssen. Es ist noch zu früh, um über Auffälligkeiten berichten zu können – aktuell bereiten sich die Kunden vor allem auf die massiv gestiegenen monatlichen Vorauszahlungen im Energiebereich vor. Wir denken, dass es im nächsten Jahr zu mehr Problemen kommen wird, wenn zusätzlich auch noch Nachzahlungen zu leisten sind. Wir erleben, dass Kunden intensiver nach ihrem persönlichen finanziellen Spielraum nachfragen. Hier können wir unseren Kunden auch Lösungen anbieten, um einen erhöhten finanziellen Freiraum zu erhalten.«

von Anja Kurz und Philipp Findling

Autor:

Redaktion aus Singen

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