Jugendarbeit zieht erschreckende Bilanz
Braucht es bald schon Streetworking für Kinder?

Abenddämmerung am Singener Jugendzentrum Nord am Ziegeleiweiher.  Die Singener Jugendhäuser sehen sich immer stärker veränderten Herausforderungen ausgesetzt, die auch die Veränderungen der Gesellschaft reflektieren.
 | Foto: Fiedler
  • Abenddämmerung am Singener Jugendzentrum Nord am Ziegeleiweiher. Die Singener Jugendhäuser sehen sich immer stärker veränderten Herausforderungen ausgesetzt, die auch die Veränderungen der Gesellschaft reflektieren.
  • Foto: Fiedler
  • hochgeladen von Oliver Fiedler

Singen. "Offene Kinder- und Jugendarbeit - Quo vadis" war die Präsentation der aktuell kommissarischen Leiterin des Singener Jugendreferats, Marietta Schorns, überschrieben, die mit ihrer Kollegin Selina Brix von der offenen Jugendarbeit in der Sitzung des Ausschusses für Schule und Sport den Jahresbericht der Jugendarbeit für 2022 vorstellten. Und der macht schnell deutlich, wie stark der Wandel unserer Gesellschaft hier im Gange ist und dass junge Menschen deswegen immer mehr Coaching bedürfen.

Marietta Schorns stellte zum Schluss ihres Berichts gar die Frage in den Raum, dass man in Singen sich damit befassen müsste, nun neben der mobilen Jugendarbeit auch eine mobile Kinderarbeit auf Korn zu nehmen. Denn sie selbst treffe immer mehr Kinder in der Stadt an, die dort offensichtlich viel Langeweile hätten, keine Ansprechpartner und auch keine Idee hätten, was sie tun können. Und welche die Frage, was sie denn dort machen würden, mit "nichts" beantworten. Das ist für sie ein doch bedenkenswertes Signal - auch eines der Vernachlässigung.
Schorns stellte auch die Frage in den Raum, ob es damals gut gewesen sei, das Jugendamt 2003 dem Landkreis zu übergeben, wenn man jetzt merke, dass man doch in vielen Fällen den Umweg übers Landratsamt nehmen müsse, wo man mit einem Problem gerade im Fürsorgebereich eigentlich direkt konfrontiert werde.

Weniger Besucher - mehr Probleme

Der Wandel der Gesellschaft ist auch in den Jugendhäusern voll angekommen. Das könne man als Nachwirkung der Corona-Beschränkungen sehen, habe sich aber schon vorher angekündigt. Wie Selina Brix sagte, gehe die Besucherzahl zurück, aber die Probleme verstärkten sich. "Die Jugendlichen in den Gymnasien sind durch G8 belegt und haben die Zeit gar nicht mehr auf solche Treffs einfach mal so zu gehen", ist die Feststellung für die drei Jugendhäuser der Stadt, dem "Blauen Haus" in der Stadtmitte, dem "Südpol" und dem "JuNo" am Ziegeleiweiher.
Auf der anderen Seite habe man inzwischen angefangen, Mittagessen an die Besucher in allen drei Jugendhäusern auszugeben, denn sie kämen oft hungrig aus der Schule direkt in den Jugendtreff. Es frage niemand, keine Familie, nach den Kindern. Der Eindruck sei, dass diese allein gelassen würden und hier einen Anschluss suchten. Auch sei spürbar, dass die Jugendtreffs immer mehr Anlaufpunkt problembehafteter Jugendlicher seien, zum Teil sogar mit medizinischer Indikation, die aber anderswo nicht unterkommen würden.  Für diese Kinder habe das Jugendhaus natürlich eine ganz große Bedeutung, macht Marietta Schorns deutlich. "Der pädagogische Bedarf bei diesen Kindern steigt auch weiter an", ergänzte Selina Brix dazu. Da wäre in manchen Fällen schon eine Eins-zu-Eins-Betreuung angebracht, die viele Kräfte binde.

Jugendhaus wird Aufbewahrungsort

Marietta Schorns hat den Eindruck, dass die Jugendhäuser hier zunehmend als "Aufbewahrungsort" der Kinder genutzt werden. In nicht wenigen Fällen, weil die Eltern eben auch einen zweiten Job bräuchten, um über die Runden zu kommen, wie sie in manchen Gesprächen dann auch feststellt.
Das ist eigentlich ein Zielkonflikt für die offene Jugendarbeit. "Elternarbeit ist hier eigentlich ein 'No-Go', weil es uns da um die Welt der Jugendlichen gehen soll", machte sie klar. Auf der anderen Seite müsse man sich darüber bewusst sein, dass ohne die Arbeit mit den Eltern diese Arbeit nicht mehr möglich sei und dieser Veränderung müsse man ins Auge sehen. Die MitarbeiterInnen in den Jugendhäusern übernähmen hier immer mehr Sozialisationsfunktionen, weil die Eltern selbst oft die Zeit und auch nicht die Kompetenz dazu hätten.

Das Jugendhaus sieht Marietta Schorns eigentlich als Ergänzung zur Schule, doch immer öfter komme es vor, dass auch die Schulsozialarbeiter in den Jugendhäusern anklopften. Vieles, was dort an Unterstützung vermittelt werden sollte, sei eigentlich beim Jugendamt verortet und mache weitere Maßnahmen nötig. Die Frage bleibe auch, ob dann nicht andere Jugendliche auf der Strecke blieben, wenn man sich um einige so intensiv kümmern müsste. Eine andere Sorge sind inzwischen die Schulferien, in denen auch viele junge Jugendliche nur ganz wenige Anlaufpunkte haben.
Das ist für die Sozialarbeiter eine mehrfache Herausforderung, zumal das Stellenkontingent derzeit nicht ganz besetzt ist.
Ein weiterer Wechsel: Die angebotene Hausaufgabenbetreuung muss zum Beispiel in diesem bald abgelaufenen Schuljahr damit leben, dass rund die Hälfte der Kinder einfach nicht kommen und sich auch nicht abmelden, obwohl andere auf die Plätze warten würden.

Aber es gibt auch positives: Wer da komme ins Jugendhaus, der komme auch wieder, sodass spürbar sei, dass die Jugendlichen sich hier auf- und angenommen fühlten, bemerkte Marietta Schorns.
Es war freilich erst mal nur ein Bericht, der Betroffenheit bei den Ausschussmitgliedern auslöste. Was die Arbeit mit Kindern betrifft, wurde allerdings schon mal Kontakt mit dem Verein "Frauen- und Kinderschutz" aufgenommen, da kann sich also etwas bewegen.

Mehr Ressourcen für Grundschulen

Ganz in diese Themenlage passt die Nachricht, dass Singen eine der fünf Städte im Baden-Württemberg sein soll, die nach dem Vorbild eines Pilotprojekts in Mannheim eine sogenannte "sozialindexbasierte Ressourcenzuweisung" bekommen soll. Andere Städte sind Heilbronn, Pforzheim und Stuttgart. Das bedeutet, dass den Schulen mit einem hohen Sozialindex Verstärkung zugewiesen werden soll, um die damit verbundenen Ansprüche an die Betreuung der Kinder besser bewältigen zu können.

Man habe sich hier ganz engagiert zu Wort gemeldet, als die Möglichkeit zur Teilnahme am Modellversuch des Kultusministeriums bekannt wurde, sagte Bürgermeisterin Ute Seifried. Drumherum werde es vermutlich eine Menge Arbeit machen, denn für die Schulbezirke müssen ganz schön viele Daten erforscht werden, bis hin zur Kaufkraft. Durch die Förderung vom Land wird der Einsatz von multiprofessionellen Teams an den Schulen ermöglicht, die auf die Lebenswelten der Kinder und jungen Jugendlichen eingehen können sollen. Anja Claßen, Rektorin der Waldeckschule, zeigte sich froh, auch noch in das Programm hineingekommen zu sein. Bei zehn Grundschulen in Singen sei die Förderung des Modellprojekts aber noch symbolisch. Die Menge der Kinder, die davon profitieren können, bleibe da doch überschaubar.

Der Modellversuch soll ab dem nächsten Schuljahr starten und mit den gemachten Erfahrungen bereits im Schuljahr 2026/2027 bereits zum Regelbetrieb gehen, wurde in der Vorlage des Städtetags informiert. Für Bürgermeisterin Ute Seifried ist das Argument zum Mitmachen klar: 16,5  Prozent der Kinder stehen im SGB II-Bezug (Bürgergeld), fast jedes fünfte Kind lebe also in Armut und bedürfe besonderer Förderung. Wie der Leiter der Hebelschule Singen, Marc Laporte-Hoffmann, in der Sitzung auch bekannt geben konnte, ist seine Schule im Singener Süden zudem als eine von 60 Schulen in einem Modellprogramm für den Einsatz multiprofessioneller Teams aufgenommen worden, wo es auch um Erlebnispädagogik geht.

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

Kommentare

Kommentare sind deaktiviert.
add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.