Wie wir aus Büchern Kraft schöpfen ...
... und warum wir es auch jetzt dürfen

Der Innenhof der Frankfurter Buchmesse. | Foto: ak
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Das hier ist kein objektiver Bericht zur Frankfurter Buchmesse. Stattdessen möchte ich einen Einblick geben in meine kleine Reise über die fünf Messetage hinweg.

Als ich in dem Zug nach Frankfurt saß, um dort die Buchmesse zu besuchen, habe ich mich vor allem zwei Dinge gefragt: Schaffe ich, was ich mir vorgenommen habe? Und ... gibt es nicht eigentlich andere, wichtigere Themen heutzutage?
Jetzt, im Nachgang, ist mir bewusst, dass mich damit genau das selbst beschäftigt hat, was ich auf der Messe herauszufinden hoffte. Auf welche Weise können Bücher und das Lesen helfen, Energie zu tanken, und ist das eigentlich okay, wenn es doch so viele Probleme zu lösen gilt?
Zwischen den Fronten der Klimakrise, Inflation, dem tobenden Krieg in der Ukraine und persönlichen Brandherden ist es sehr leicht den Überblick zu verlieren und in die Überforderung zu rutschen. Eben diese hat mich im Zug überrollt, als ich am Hauptbahnhof ausgestiegen bin und wieder, als ich das Messegelände betreten habe. Überall wurde verhandelt, diskutiert, vorgetragen und präsentiert, alles mitzubekommen – schlicht unmöglich. Den ersten halben Tag habe ich mich zwischen den Ständen und Menschen umherstreifend berieseln lassen und das ein oder andere Buch aufgeschlagen.
Aber schon am selben Nachmittag gab es eine Diskussionsrunde zum Thema »Can creativity save the world?«. Wie gemacht für meine Fragen. Beteiligt waren die ukrainische Künstlerin Maria Kulikovska, der deutsche Bildhauer Tobias Rehberger und Hermann Vaske, der sich als Autor und Filmemacher mit den Treibern und Hemmern der Kreativität beschäftigte. Das Trio kam dabei zu dem Fazit, dass die Kreativität als politisches Mittel nur so gut oder schlecht ist, wie die Hand, die sie führt. Für mich bot sich im Anschluss die Chance, mit der ukrainischen Künstlerin zu sprechen. Bereits zuvor hatte sie klar gemacht, wie sehr die Kunst für sie ein Mittel ist, mit ihrer Wut umzugehen. Auch von Soldaten in der Ukraine erzählte sie, denen beispielsweise Musik helfen könne zu entspannen, sich zu konzentrieren und »emotional überleben« zu können. Seit mehr als acht Jahren ist Maria Kulikovska auf der Flucht, wurde auf eine schwarze Liste gesetzt, dann erst von der Krim und nun komplett aus ihrem Heimatland vertrieben. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie nur sehr schwer begreifen kann, wie die Menschen hier, insbesondere auf der Messe, einfach so ihren Alltag weiterleben können, als gäbe es den Krieg in der Ukraine gar nicht. Lesen oder Ähnliches scheint für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Damit traf auch sie den Kern meines Zwiespalts – was mich ehrlicherweise noch mehr verunsichert hat.

Nach der einen oder anderen Anlaufschwierigkeit konnte ich dann an den beiden Folgetagen viele sehr unterschiedliche Gespräche führen. Die reichten vom Austausch zweier Sätze bis hin zu tiefgründigen und langen Gesprächen, die teils auch sehr persönlich wurden. Kein Wunder, denn meine Fragen sind ja kaum objektiv zu beantworten. Trotz der immensen Unterschiedlichkeit haben sich für mich drei Bereiche ergeben, in denen die Menschen aus dem Lesen Kraft schöpfen: Entspannung, Wissen und Inspiration. Dabei war es eher selten, dass nur eine Kategorie zur Sprache kam, zumal sie sich oft vermischen. Passend zum – im wahrsten Sinne – geschäftigen Treiben der Messe, wurde das Buch sehr oft als Lern- und Lehrmittel betrachtet. Oder wie es ein amerikanischer Verleger treffend ausdrückte:

»Erst lernen wir das Lesen, dann lernen wir durch das Lesen«

Das Wissen prägt sich gedruckt nicht nur besser ein, sondern hat zudem noch einen Vertrauensbonus, kann man sich doch zumeist sicher sein, dass das Geschriebene faktisch geprüft ist. Bücher erleichtern es, sich gezielt und ausführlich mit einem Thema zu befassen, insbesondere Kindern, denen dies oft noch schwer fällt. Sie bieten wie kein anderes Medium die Chance vom eigenen Sofa fremde Länder und Kulturen mit ihren vielfältigen Facetten und Farben kennenzulernen. So habe ich mit einer gebürtigen Französin gesprochen, die in Großbritannien arbeitet und dafür über das Lesen ihren »Sinn für die britische Kultur verbessern« konnte. Bücher helfen die Welt zu sehen, wie man sie im echten Leben nicht sehen kann – egal ob in Fiktion oder Realität, Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Parallel bieten sie den Freiraum, das mit schwarzer Tinte gezeichnete Bild mit eigenen Farben und Details auszufüllen. Der Leser kann sich im Buch Dinge markieren, Anmerkungen machen, es lässt sich mehrfach lesen, tauschen oder leihen. Damit hat es im Vergleich mit anderen Medien einen klaren Vorteil, das ihm vermutlich auch langfristig seinen Platz im Medienmix sichern wird.

»Man lernt die Energie der Welt kennen und nicht nur die eigene«

Damit fasste eine Australierin sehr treffend zusammen, inwiefern Bücher auch über den Verstand hinaus ungemein hilfreich bei der Selbstfindung und für das Selbstbewusstsein sein können. Neue Lebenswege und -einstellungen kennenzulernen, ist nicht nur in der typisch jugendlichen Selbstfindungsphase hilfreich. Ein Bewusstsein für die eigenen Gefühle und Schwierigkeiten, sich und andere zu verstehen, aber auch sich selbst verstanden zu fühlen kann, Hoffnung geben. So lässt sich in Büchern emotionaler Halt finden, alte Wege werden bestärkt oder neue Perspektiven und Lösungen möglich. Gerade fiktive Charaktere schaffen es auf ungewöhnliche Art und Weise ein Thema zugänglich zu machen, um sich so auch in zunächst Fremdes hineinversetzen zu können.

»Die Seele ruhen lassen«

Mit diesem Satz begreift eine Mitarbeiterin des Piper-Verlags das Buch als Ruhepol, kann es doch auch genutzt werden, um zu entspannen, als Ablenkung und Unterhaltung. Dabei in eine andere Welt abseits der oft komplizierten Realität einzutauchen, war gerade bei den Jüngeren, mit denen ich gesprochen habe, bedeutend – noch dazu mit einem besseren Gewissen als beim Filmeschauen. Dieser Abstand von den eigenen Sorgen kann sogar helfen, sich selbst aus extremen Gefühlslagen zu befreien. Eine Mitarbeiterin am Stand des Selfpublisher-Verbands erzählte mir sogar, dass das Lesen ihr maßgeblich geholfen habe, aus ihrer Depression freizukommen.

Aber ist es denn nun auch okay zu lesen?

Entspannung zu suchen in einer Situation, an der man wenig ändern kann, ist sicher nicht verkehrt. Das sollte nicht so weit gehen, dass man auch an anderer Stelle komplett vermeidet, Verantwortung zu übernehmen.
Sicher hat hier ein entspannter Moment ebenfalls seine Berechtigung. Denn steckt man innerlich in einer Gedanken- und Gefühlsspirale, kann es schwer sein, dieser zu entkommen. Geben wir uns dann einen anderen Input, können wir im Anschluss ohne schrillende Alarmglocken fortfahren. Ähnlich auch im Angesicht großer und globaler Krisen, die weitgehend außerhalb unserer Kontrolle liegen, so die Überzeugung meiner Gesprächspartner. Was nutzt es dort an den Brandherden, wenn wir uns hier einschränken und in Panik geraten? Uns bewusst dafür zu entscheiden ein Buch zu lesen – oder etwas anderes zu tun – kann uns sogar ein angenehmes Gefühl von Kontrolle geben. Es ist wichtig, die eigenen Bedürfnisse mit denen der anderen auszubalancieren, um so beidem gerecht werden zu können. Sich Klarheit zu verschaffen, kann auch dem Negativstrom der Nachrichten ihren Schrecken nehmen, gut recherchierte Fakten geben Sicherheit. Das unterstreicht eine Mitarbeiterin beim Reclam-Verlag, so seien nach Ausbruch des Ukrainekriegs die Verkaufszahlen von Büchern, die sich mit der Ukraine befassten, deutlich angestiegen.
Ältere Bücher als Zeitzeichen vergangener Krisen geben uns Hoffnung und lassen uns unser Potenzial (wieder-)entdecken. Die Relevanz von Geschriebenem und Kultur ist also allein schon dadurch gegeben, dass beides auch weiterhin die meisten Krisen überdauern wird.
Hoffnung als Kraftquelle in Krisensituationen greift auch Stefanie Stahl, Autorin und Psychologin, auf der Buchmesse auf: »Der Mensch strebt in seinem Leben danach glücklich zu sein. Wenn das nicht möglich ist, ist da noch die Hoffnung als Ersatzdroge zum Glück.« Aber letztlich sei ein wertschätzendes Miteinander nur möglich, wenn wir mit uns selbst im Reinen sind. »Wenn das jeder machen würde, hätten wir manche von unseren aktuellen Problemen erst gar nicht.«

Neben den persönlichen Gesprächen gab es im Laufe der Messe auch Vorträge, die die zentrale Rolle der Kultur thematisierten. Präsident Selensky betonte in einer vorab aufgezeichneten Rede beispielsweise die Verbreitung von Wissen und die darin liegende Bedeutung für die Freiheit.
Der ukrainische Autor und Musiker Serhij Zhadan, welcher für »Himmel über Charkiw« mit dem Friedenspreis der Buchmesse ausgezeichnet wurde, macht für Außenstehende in seinem Buch das Kriegsgeschehen und dessen emotionalen Teil sehr gut greifbar. Darüber hinaus unterstreicht er den Zusammenhang zwischen der Kultur und der Identität einer Nation. Hinter der gezielten Zerstörung ukrainischer Kulturstätten durch Russland sieht er eine versuchte »Entukrainisierung«. Um dem entgegenzuwirken und der Ukraine Hoffnung und eine Basis für eine neue Zukunft zu geben, sei es wichtig, Kulturstätten und -schaffende zu schützen, wie er es in seiner Heimatstadt und Kulturhochburg Charkiw macht.

In den fünf Messetagen habe ich eine sehr große Spannbreite kennengelernt, meist war die erste Reaktion auf meine Fragen nachdenklich-positiv. Erst am Freitag bin ich, vielleicht glücklicherweise und als Gegenpol, an zwei Ausreißer geraten: Ein Mann, der seit dem College nichts mehr gelesen hat, und eine Frau, die nur noch für ihre Arbeit liest.
Doch dann sollte gerade die letzte Konversation, die ich auf der Buchmesse führen durfte, die sein, die für mich am prägendsten war. Ein Kiewer Museum war in den Hallen mit zwei Mitarbeiterinnen vertreten. Beide konnten bis in den Sommer nicht lesen. Während eine auch jetzt nur sporadisch liest, berichtete die andere, dass sie inzwischen ein Buch nach dem anderen verschlinge. Das Lesen schaffe es, sie am Abend abzulenken, ihr Bewusstsein sei dadurch beschäftigt, wodurch sie letztendlich deutlich leichter einschlafen könne. So ist sie am nächsten Tag ausgeruht, geistig klar und leistungsfähig für ihre Arbeit im Museum und andere freiwillige Tätigkeiten. Dass ein Mensch so direkt und greifbar vom Lesen profitiert und Energie daraus zieht, hat mich absolut erstaunt.

Ich selbst habe jedenfalls erkannt, dass wir das Potenzial einer so kleinen Gewohnheit, wie das Lesen am Abend, nicht unterschätzen sollten. Dass die Menschen in vielfältiger Weise davon profitieren und ich verstehe, wie tief ein zunächst banales Thema doch greift. Denn Bücher bieten wie kaum ein anderes Medium Diversität und Potenzial. Im Grunde geht es dabei aber gar nicht um das Buch. Vielmehr geht es darum herauszufinden, wie wir es schaffen, unsere eigene »Batterie« aufzuladen. Darum, damit zu beginnen, sich selbst und anderen die richtigen Fragen zu stellen. Und darum, die Antworten auch in den kleinen Dingen zu suchen.

Autor:

Anja Kurz aus Engen

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