Hallo und guten Tag
Das Märchen von der Vernunft

Zum Jahreswechsel möchte ich Ihnen eine Geschichte von Erich Kästner erzählen, liebe WOCHENBLATT - Leserinnen und -Leser. Der Schriftsteller hat sie unter dem Eindruck des Krieges niedergeschrieben; das Märchen von der Vernunft wurde 1948 in dem Buch »Der tägliche Kram« abgedruckt. Es war einmal ein netter alter Herr, der hatte die Unart, sich ab und zu vernünftige Dinge auszudenken. Das heißt: zur Unart wurde seine Gewohnheit eigentlich erst dadurch, daß er das, was er sich jeweils ausgedacht hatte, nicht für sich behielt, sondern den Fachleuten vorzutragen pflegte. Da er reich und trotz seiner plausiblen Einfälle angesehen war, mußten sie ihm, wenn auch mit knirschenden Ohren, aufs Geduldigste zuhören. Und es gibt gewiß für Fachleute keine ärgere Qual als die, lächelnden Gesichts einem vernünftigen Vorschlag zu lauschen. Nun also. Eines Tages wurde der nette alte Herr während einer Sitzung gemeldet, an der die wichtigsten Staatsmänner der Erde teilnahmen, um, wie verlautete, die irdischen Zwiste und Nöte aus der Welt zu schaffen. »Allmächtiger!« dachten sie. »Wer weiß, was er heute mit uns und seiner dummen Vernunft wieder vor hat!« Und dann ließen sie ihn herein bitten. Er kam, verbeugte sich ein wenig altmodisch und nahm Platz. Er lächelte. Sie lächelten. Schließlich ergriff er das Wort. »Meine Herren Staatshäupter und Staatsoberhäupter«, sagte er, »ich habe, wie ich glaube einen brauchbaren Gedanken gehabt; man hat ihn auf seine praktische Verwendbarkeit geprüft; ich möchte ihn in Ihrem Kreise vortragen. Hören Sie mir, bitte, zu. Sie sind es nicht mir, doch der Vernunft sind Sie's schuldig.« Sie nickten, gequält lächelnd, mit ihren Staatshäuptern, und er fuhr fort: »Sie haben sich vorgenommen, Ihren Völkern Ruhe und Frieden zu sichern, und das kann zunächst und vernünftigerweise, so verschieden Ihre ökonomischen Ansichten auch sein mögen, nur bedeuten, daß Ihnen an der Zufriedenheit aller Erdbewohner gelegen ist. Oder irre ich mich in diesem Punkte?» »Bewahre« riefen sie. »Keineswegs« Wo denken Sie hin, netter, alter Herr!» »Wie schön!« meinte er. »Dann ist Ihr Problem gelöst. Ich beglückwünsche Sie und Ihre Völker. Fahren Sie heim und bewilligen Sie aus den Finanzen Ihrer Staaten, im Rahmen der jeweiligen Verfassung und geschlüsselt nach Vermögen, miteinander einen Betrag, den ich genauestens habe errechnen lassen und am Schluß nennen werde! Mit dieser Summe wird folgendes geschehen: Jede Familie in jedem Ihrer Länder erhält eine kleine, hübsche Villa mit sechs Zimmern, einem Garten und einer Garage sowie ein Auto zum Geschenk. Und dahintendrein der gedachte Betrag noch immer nicht aufgebraucht sein wird, können Sie in jedem Ort auf der Erde, der mehr als 5000 Einwohner zählt, eine neue Schule und ein modernes Krankenhaus bauen lassen. Ich beneide Sie. Denn obwohl ich nicht glaube, daß die materiellen Dinge die höchsten irdischen Güter verkörpern, bin ich vernünftig genug, um einzusehen, daß der Frieden zwischen den Völkern zuerst von der äußeren Zufriedenheit der Menschen abhängt. Wenn ich eben sagte, daß ich Sie beneide, habe ich gelogen. Ich bin glücklich.« Der nette, alte Herr griff in seine Brusttasche und zündete sich eine kleine Zigarre an. Die übrigen Anwesenden lächelten verzerrt. Endlich gab sich das oberste der Staatsoberhäupter einen Ruck und fragte mit heiserer Stimme: »Wie hoch ist der für Ihre Zwecke vorgesehene Betrag?« »Für meine Zwecke?« fragte der nette, alte Herr zurück, und man konnte aus seinem Ton ein leichtes Befremden heraushören. »Nun reden Sie schon!« rief das zweithöchste Staatsoberhaupt unwillig. »Wieviel Geld würde für den kleinen Scherz gebraucht?« »Eine Billion Dollar«, antwortete der nette, alte Herr ruhig. »Eine Milliarde hat tausend Millionen und eine Billion hat tausend Milliarden. Es handelt sich um eine Eins mit zwölf Nullen.« Dann rauchte er wieder an seiner kleinen Zigarre herum. »Sie sind wohl vollkommen blödsinnig!« schrie jemand. Auch ein Staatsoberhaupt. Der nette, alte Herr setzte sich gerade und blickte den Schreier verwundert an. »Wie kommen Sie denn darauf?« fragte er. »Es handelt sich natürlich um viel Geld. Aber der letzte Krieg hat, wie die Statistik ausweist, ganz genau soviel gekostet!« Nun lachten sie alle lautet. Es war ein rechtes Höllengelächter. Einer konnte es im Sitzen nicht mehr aushalten. Er sprang auf, hielt sich die schmerzenden Seiten und rief mit der letzten ihm zu Gebote stehenden Kraft: »Sie alter Schafskopf! Ein Krieg - ein Krieg ist doch etwas ganz anderes!« Die Staatshäupter, der nette, alte Herr und ihre lustige Unterhaltung sind völlig frei erfunden. Daß der Krieg eine Billion Dollar gekostet hat und was man sonst für den Betrag leisten könnte, soll, versichert eine in der »Frankfurter Neuen Presse« zitierte amerikanische Statistik, hingegen, zutreffen. Können Sie diese Zweifel verstehen, liebe WOCHENBLATT - Leserinnen und -Leser? Als Vierbeiner mit Instinkt - doch leider ohne Verstand - wünsche ich Ihnen ein friedliches Jahr 2009. Halten Sie meinem, unserem WOCHENBLATT weiterhin die Treue.

In diesem Sinn bis zum nächsten Mal im neuen Jahr, Ihr bunter Hund.

Autor:

Redaktion aus Singen

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