Resilenter Auftakt der Naturschutztage
"Wir sind noch zu retten - wenn wir handeln"

Fast bis auf den letzten Platz war der große Saal im Radolfzeller Milchwerk gefüllt zur Eröffnung durch den NABU-Landeschef Johannes Enssle unter dem Titel "Sind wir noch zu retten?" - Wie, dazu gab es schon am ersten Tag eine Menge guter Antworten. | Foto: Oliver Fiedler
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  • Fast bis auf den letzten Platz war der große Saal im Radolfzeller Milchwerk gefüllt zur Eröffnung durch den NABU-Landeschef Johannes Enssle unter dem Titel "Sind wir noch zu retten?" - Wie, dazu gab es schon am ersten Tag eine Menge guter Antworten.
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Radolfzell. „Wer in die Zukunft blickt, könnte den Mut verlieren. Überall Krisen: Kriege, Artensterben, Klimakrise: Sind wir überhaupt noch zu retten?“. Mit dieser Frage eröffnete NABU-Landeschef Johannes Enssle am Donnerstagnachmittag die 47. Naturschutztage am Bodensee und griff damit die Stimmung vieler ehrenamtlich aktiver Menschen im Naturschutz auf, denen man zuweilen angesichts der nicht aufhörenden Krisenstimmung auch eine Ermüdung anspüre. Denn auch die Naturschützer gerieten inzwischen wieder vermehrt in die Kritik, wenn sie mit ihren berechtigten Forderungen nun als "Verzögerer" manchen Projekts hingestellt würden.

Seit inzwischen 47 Jahren veranstalten NABU und BUND gemeinsam zum Jahresauftakt die Naturschutztage in Radolfzell am Bodensee - als immer noch größer Kongress, als Austaschplattforum und Ideenbörse für die meist ehrenamtlichen Naturschützer. Über 1000 Gäste werden es auch wieder in diesem Jahr werden, freute sich Enssle schon beim Blick in das vollbesetzte Podium zur Eröffnung hier im Milchwerk. Über 40 Veranstaltungen wird es hier an vier Tagen geben, vom Vortrag über den Workshop bis zur Exkursion. Die Spontanumfrage zum Start zeigte dabei auch, dass rund ein Viertel der Besucher hier zum ersten Mal mit dabei waren.

„Es braucht Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen. Denn unsere Zukunft ist kein vorprogrammiertes Schicksal, dem wir uns ergeben müssen. Sie hängt vielmehr direkt davon ab, was wir heute für sie tun“, fasste die BUND-Landesvorsitzende Sylvia Pilarsky-Grosch zum Start in der Medienkonferenz zusammen. Johannes Enssle stellte klar: „Intakte Ökosysteme sind unsere Lebensversicherung. Sie zu erhalten, ist die fundamentale Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit von uns als Spezies Mensch auf diesem Planeten.“

Um der Eingangsfrage mit dem durchaus provokant gemeinten "Sind wir noch zu retten?"  auf den Grund zu gehen, hatten die Verbände für den ersten Tag drei Top-Expertinnen aus der Forschung eingeladen. Gemeinsam sind sie sich einig, dass Resignation keine Lösung ist - aber Resilienz nur ein Teil der Antwort ist und "Handeln" das beste für die ganze Gesellschaft.

Apokalypse ist oft eine Frage der Perspektive

Philipp Schrögel, Apokalypse-Forscher aus Heidelberg beschäftigte sich in seinem Vortrag auf wissenschaftlicher Ebene mit der Frage nach dem Weltuntergang in der Kulturgeschichte: „Die Beschäftigung mit dem Weltuntergang zieht sich durch die Geschichte der Menschheit in allen Zeiten und Kulturen und gab diese Ängste auch lange vor der "Apokalypse". Der Unterschied zu früheren Jahrhunderten: Das Weltende liegt zum Beispiel mit der Entwicklung der Atomwaffen wie auch der menschengemachten Erderwärmung zunehmend in den Händen der Menschheit selbst und nicht mehr in den Händen der Götter. "Ist eine Apokalypse zu erwarten?" war durchaus hart gemeint. "Wir stecken eigentlich schon mittendrin und wollen es nicht wahrhaben. Viele Menschen weltweit, insbesondere im globalen Süden, sind unmittelbar in ihrer Existenz bedroht, erfahren den Untergang ihrer Welt durch Dürren, Überflutungen oder Feuer. Damit apokalyptische Nachrichten aufrütteln und nicht resignieren lassen, müssen sie eine aktivierende Botschaft enthalten", waren seine Worte an das Publikum. Beispiele von Apokalypsen führte er in seinem Parforceritt viele vor aus der Geschichte der Menschheit - bisher ging das Leben, wenn auch vielleicht in anderer Form weiter.

Mit Resilienz das Zukunftsgefühl nicht aus den Händen geben

Dr. Silvia Queri, Psychologie-Professorin an der Hochschule Ravensburg-Weingarten ging der Frage auf den Grund, wie Ohnmachtsgefühle bei all den negativen Nachrichten überwunden werden können: „Klimakrise, Pandemien, Inflation oder bewaffnete Konflikte – wir befinden uns in einer Art ,Polykrise‘, die insbesondere bei jungen Menschen nachvollziehbare Zukunftsängste erzeugt. Sie fühlen sich vielfach ihrer Zukunft beraubt. Krisen wie die Klimakrise, deren Lösung komplex und langwierig ist, können Erschöpfungszustände mit lähmender Angst und resignativer Antriebslosigkeit auslösen – auf individueller und kollektiver Ebene. "Doch die Geschichte der Menschheit ist voller langwieriger und existenzbedrohender Krisen. Sie zeigt: Menschen sind grundsätzlich handlungs- und lösungsfähig", machte sie Mut. Die psychologische Forschung könne dazu beitragen, dass es nicht zu ‚psychologischen Verirrungen‘ komme, etwa zu Verzögerungsdiskursen oder dem "Anschluss an populistische Gruppen.“

Der Klimawandel schafft neue Konflikte

Dr. Simon Teune ist Protest- und Bewegungsforscher in Berlin und beleuchtete in seinem Vortrag die Frage, welche Rolle der Zivilgesellschaft bei großen gesellschaftlichen Transformationsprozessen zukommt: „Wir stehen als Gesellschaft vor enormen Herausforderungen. Die Klimakatastrophe spitzt sich immer weiter zu – mit nicht absehbaren Folgen. Wir werden immer häufiger Wetterextreme, Dürren und Ernteausfälle erleben. Damit werden neue Konflikte entstehen, Gewalt und massive Fluchtbewegungen. In dieser Situation braucht es soziale Bewegungen und die organisierte Zivilgesellschaft, um eine Transformation zu einer Lebensweise voranzutreiben, die das Ausmaß der Klimakatastrophe begrenzt, anstatt sie zu befeuern." Umweltorganisationen spielen dabei für ihn eine wichtige Rolle als Treiber, Erklärer und Vermittler. Sie müssten sich aber auch selbstkritisch fragen, ob sie dieser historischen Situation bereits gerecht würden - und was sie selbst dafür noch in einer eigenen Transformation dazulernen müssten.

Artenvielfalt ist ein Kartenhaus

NABU und BUND wollen mit dieser Themenwahl ein Zeichen setzen, wurde zur Eröffnung deutlich gemacht, die in den letzten Auflagen auch auch von den Schilderungen zur Dramatik des Klimawandels geprägt waren. Die Dramatik bleibe auch: Man müsse die Gefährdung der Artenvielfalt auf der Erde wie ein Kartenhaus verstehen: Ein fehlendes Teil könne da alles zum Einsturz bringen", schilderte Johannes Enssle in der Medienkonferenz.
Die Naturschützer von NABU und BUND rufen ihre Mitglieder und alle Bürgerinnen und Bürger mit diesen Themen dazu auf, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern sich aktiv einzubringen: „Ehrenamtlich Aktive sind zupackende Mutmacherinnen und Mutmacher. Ihr Engagement im Natur- und Umweltschutz wirkt sich positiv in viele Richtungen aus – es hilft, die beschlossenen Ziele auch wirklich zu erreichen. Sich gemeinsam erfolgreich im Umwelt- und Naturschutz einzusetzen, sorgt dafür, nicht den Mut zu verlieren und der Demokratie den Rücken zu stärken“, betonten die beiden Landesvorsitzenden von BUND und NABU.

Es gibt Etappenziele

Und es gibt ja auch Erfolge zu vermelden: Am Samstag sollen die Unterschriften, die bei der vor einem Jahr auf den Naturschutztagen initiierten Aktion "Ländle leben lassen" gesammelt wurden, symbolisch übergeben werden, um sie dann an die Landesregierung weiterzugeben. Das geforderte Quorum habe man schon im Oktober überschritten, nun sei die Landesregierung zum Handeln aufgefordert. Das auch im letzten Jahr gesetzte Thema zum Schutz von Streuobstwiesen als eines der Fundamente der Artenvielfalt in Kulturlandschaften hat laut Johannes Enssle auch gewirkt. Nach seinen Informationen gab es weniger Genehmigungen zur Rodung für Baugebiete oder ähnliches und es sei spürbar, dass die Baurechtsbehörden da schon genauer hinschauten.

Die Naturschutztage laden noch bis zum Sonntag mit vielen Themen zum Mitmachen und Besuch ein. Das gesamte Programm findet sich auf der Veranstaltungs-Homepage, wobei die Exkursionen natürlich fast alle ausgebucht sind.

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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