"Wahrheit" aus Philosophen-Sicht
Wahrheit und Wirklichkeit

Foto: Stefan Fischer

Der Mensch ist dazu verdammt, zu handeln. Unser Leben besteht zu einem großen Teil darin, überlegte Entscheidungen über die großen und kleinen Dinge des Lebens zu treffen: Kaufe ich mir ein Elektroauto? Gehe ich heute zum Italiener? Beende ich meine außereheliche Affäre mit Kunibert? Um diese und andere Entscheidungen zu treffen, benötigen wir Überzeugungen darüber, wie die Wirklichkeit — die Welt, in der wir leben — beschaffen ist. Beispielsweise kaufe ich kein Elektroauto, weil ich überzeugt bin, dass der Klimawandel gar nicht so schlimm ist.

Eine Überzeugung zu haben ist nichts anderes, als etwas für wahr zu halten. Es kann natürlich sein, dass ich etwas für wahr halte, das sich dann als falsch herausstellt. Beispielsweise habe ich die Überzeugung, dass meine Nachbarin eine Hexe ist — aber was genau heißt es, dass sich diese Überzeugung als falsch herausstellen könnte?

Wir nennen eine Überzeugung genau dann „wahr“, wenn wir meinen, dass sie nahe genug an die Wirklichkeit „herankommt“. Ansonsten nennen wir sie „falsch“. Wir können uns das an einem einfachen Beispiel verdeutlichen.

Flugzeuge fliegen. Diese erstaunliche Tatsache verdanken wir einigen cleveren Geistern, denen es gelang, die Gesetze der Aerodynamik zu entschlüsseln. Diese Gesetze sind Überzeugungen, die, so möchte ich nun einmal kühn behaupten, wahr sind. Sie kommen hinreichend nahe an die Wirklichkeit heran. Woher ich das weiß? Sie ahnen es bereits: Flugzeuge fliegen.

Natürlich ist es häufig schwer, herauszufinden, ob Überzeugungen wahr sind. Ist die Seele unsterblich? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen: Es ist entweder wahr oder falsch. Die Wirklichkeit ist entweder so, dass die Seele unsterblich ist, oder nicht. Niemand von uns kann das entscheiden. Wir können uns natürlich entscheiden, es für wahr zu halten und unser Leben danach ausrichten — ob es aber wahr ist, liegt nicht in unserer Hand. Die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit ist eine „Für-wahr-halte-Freiheit“, und nicht die Freiheit, zu entscheiden, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Es ist ein großes Missverständnis, zu meinen, jeder könne seine eigene Wahrheit haben. Richtig ist: Jeder kann seine eigene Meinung haben. Aber das bedeutet nicht, dass diese Meinung auch wahr ist. Fragen Sie die Flugzeugbauer.

Auch Demokratien sind dazu verdammt, zu handeln. Ohne gemeinsame Vorstellungen unserer Wirklichkeit droht die politische Handlungsunfähigkeit. Putin weiß das. Darum finanziert er irreführende Kampagnen überall im Westen. Auch Donald Trump führt einen Krieg gegen die Wahrheit. Die erklärte Strategie seines ehemaligen Beraters Steve Bannon bestand darin, die Medien „mit Scheiße zu überfluten“. Aus gutem Grund: Orientierungslosigkeit macht manipulierbar. Wie wehren wir uns? Wir müssen an unserem Versuch festhalten, die einzige Wirklichkeit, die wir haben, zu verstehen. Und das geht nicht ohne wahre Überzeugungen.

Übrigens: Es gibt keine Hexen. Der Klimawandel ist ein Riesenproblem. Und Björn Höcke ist Faschist.

von Stefan Fischer, Universität Konstanz

Autor:

Redaktion aus Singen

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