Stimmungsbarometer:
Sorgen zum Jahreswechsel, aber auch Dankbarkeit
Allensbach. Ein Jahr geht zu Ende, das für viele Bürger böse Überraschungen mit sich gebracht hat und entsprechend gedrückt ist die Stimmung im Land. Seit dem Jahr 1947 begleitet das Institut für Demoskopie Allensbach das Zeitgeschehen mit seinen repräsentativen Bevölkerungsumfragen. In dieser ganzen Zeit spielte die Frage, ob genügend Energie vorhanden ist, um im Winter die Wohnungen zu heizen, in den Umfragen des Instituts ein einziges Mal eine Rolle. Im September 1951 wurde die Frage gestellt:
»Haben Sie schon Ihre Kohlen für den nächsten Winter?«
Elf Prozent der Befragten antworteten, sie hätten bereits ausreichend Kohlen, weitere 37 Prozent gaben zu Protokoll, dass sie schon Kohlen angeschafft hätten, aber noch nicht genug, um über den Winter zu kommen. Eine relative Mehrheit von 44 Prozent sagte, sie hätte noch keine Kohlenvorräte. Acht Prozent gaben an, mit Holz oder Torf zu heizen und deswegen keine Kohle zu benötigen. Öl- oder Gasheizungen gab es damals praktisch nicht. Die Frage wurde danach nie wieder gestellt. 70 Jahre lang schien der Gedanke, es könne im Winter das Heizmaterial ausgehen, abwegig.
Ein tiefer Einschnitt
Bis ins Jahr 2022. Im August dieses Jahres gaben 51 Prozent der Befragten einer Allensbacher Umfrage an, sie hätten große Sorgen, dass sie ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen könnten. Die allermeisten von ihnen dürften diese Erfahrung zum ersten Mal in ihrem Leben gemacht haben.
Das Beispiel zeigt, wie tief der Einschnitt war, den der russische Überfall auf die Ukraine auch für das Alltagsleben der Deutschen bedeutete, im Südwesten nicht weniger als in den anderen Landesteilen. Der Bevölkerung ist dies auch bewusst. So antworteten in einer aktuellen Umfrage vom Dezember 2022 auf die Frage, ob sie der Aussage von Bundeskanzler Scholz zustimmen würden, wonach der Ukraine-Krieg eine Zeitenwende bedeute, 57 Prozent, dass auch sie dieser These zustimmen würden. In Baden-Württemberg waren es 61 Prozent. Die Gesamtbilanz des Jahres fällt auch dementsprechend negativ aus.
61 Prozent der Deutschen insgesamt und immerhin noch 53 Prozent der Befragten in Baden-Württemberg stimmten im Dezember der Aussage zu:
»Wenn man mal an die aktuellen Krisen und Probleme denkt, war das vergangene Jahr 2022 das schlimmste Jahr seit langem.«
Druck der Inflation
Der größte Anlass zur Sorge für die Menschen in Deutschland insgesamt, wie auch im Südwesten, ist die Inflation. 17 Prozent der Befragten in Baden-Württemberg sagten in der aktuellen Umfrage, dass sie die Preissteigerungen sehr stark belasten, weitere 40 Prozent sagten, die Inflation belaste sie stark. Lediglich 41 Prozent gaben an, dass sie durch die steigenden Preise weniger stark oder gar nicht belastet seien. Damit ist die Situation im vergleichsweise reichen Baden-Württemberg noch deutlich besser als in anderen Teilen des Landes. In Deutschland insgesamt sagten 66 Prozent, dass sie durch die Inflation sehr stark oder stark belastet seien, neun Prozent mehr als im Südwesten.
Trotz des Drucks durch die Inflation ist die finanzielle Lage der meisten Bürger allerdings noch nicht wesentlich angespannter als in den vergangenen Jahren. Zwölf Prozent der Befragten in Baden-Württemberg sagten im Dezember, es gehe ihnen wirtschaftlich sehr gut, sie hätten finanziell keine Sorgen. 47 Prozent meinten, sie könnten sich zwar nicht alles leisten, aber alles in allem gehe es ihnen wirtschaftlich recht gut. 33 Prozent stimmten der Aussage zu:
»Ich komme finanziell einigermaßen aus, es reicht (gerade).«
Lediglich acht Prozent gaben zu Protokoll, dass sie sich wirtschaftlich ziemlich einschränken müssten oder gar finanziell ziemliche Sorgen hätten. Auch hier steht Baden-Württemberg etwas besser da als andere Länder. In Deutschland insgesamt berichteten immerhin zwölf Prozent über größere finanzielle Probleme. Bedeutend ist aber vor allem, dass sich diese Zahlen nicht von den in früheren Jahren ermittelten Werten unterscheiden. Noch hat die Inflation den Wohlstand der Bevölkerung nicht wesentlich beeinträchtigt, auch wenn sie natürlich eine große Bedrohung bleibt und immer größeren Schaden anrichten wird, je länger sie auf dem derzeitigen Niveau verbleibt.
Wie optimistisch ist die Gesellschaft?
Die persönliche Bilanz des Jahres 2022 fällt bei den Bürgern im Südwesten deutlich positiver aus als das allgemeine Urteil über das zu Ende gehende Jahr.
»Würden Sie sagen, das vergangene Jahr 2022 war für Sie persönlich ein gutes Jahr, oder war 2022 für Sie kein gutes Jahr?«
Auf diese Frage antwortete immerhin eine relative Mehrheit von 42 Prozent der Befragten in Baden-Württemberg, für sie persönlich sei das Jahr gut gewesen. Deutlich weniger, 33 Prozent, sagten, das Jahr sei für sie nicht gut gewesen. In Deutschland insgesamt zogen mit 38 Prozent etwas weniger Befragte eine positive persönliche Bilanz.
So scheint der Himmel im Südwesten etwas weniger verhangen zu sein als in den anderen Landesteilen, aber der Unterschied ist letztlich gering, die Gesamtstimmung gedrückt. Besonders deutlich ist dies zu erkennen an den Ergebnissen einer Frage, mit der seit dem Jahr 1949 regelmäßig der allgemeine Optimismus in der Gesellschaft ermittelt wird. Sie lautet:
»Sehen Sie den kommenden 12 Monaten mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?«
Vor einem Jahr, im Dezember 2021, antworteten auf diese Frage 40 Prozent der Befragten in Deutschland, sie sähen dem kommenden Jahr mit Hoffnungen entgegen. Das war im langjährigen Vergleich ein niedriger, wenn auch kein ungewöhnlich niedriger Wert. Die Corona-Krise drückte spürbar auf die Stimmung. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine fiel dann der Anteil derer, die sagten, sie sähen den folgenden zwölf Monaten mit Hoffnungen entgegen, auf 19 Prozent und damit auf einen historischen Tiefstand. Der bis dahin niedrigste Wert von 27 Prozent war Ende 1950 unter dem Eindruck des Korea-Krieges gemessen worden. Im Oktober dieses Jahres äußerten sich sogar nur 16 Prozent hoffnungsvoll.
Doch nun, am Ende des Jahres, scheint sich die Stimmung wieder aufzuhellen. Im November 2022 war der Anteil derjenigen, die dem kommenden Jahr mit Hoffnungen entgegensehen, immerhin wieder auf 30 Prozent gestiegen. Das waren immer noch deutlich weniger als im letzten Jahr, aber der Zuwachs um 14 Prozentpunkte ist bemerkenswert. In der Umfrageforschung kommen solche Sprünge äußert selten vor. Das Ergebnis ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich das Meinungsklima wieder verbessert.
Ein großes Missverständnis
Im März dieses Jahres sagte Joachim Gauck in einer Talkshow:
»Wir können auch einmal frieren für die Freiheit.«
Das Zitat sorgte damals für einige Aufregung und trug Gauck teils heftige Kritik ein. Er, der ehemaliger Bundespräsident, werde ja in jedem Fall im Warmen sitzen. Da könne man leicht anderen Menschen Verzicht predigen. Doch die Aussage war aus dem Zusammenhang gerissen. Gauck hatte die Krise nicht kleinreden wollen, im Gegenteil. Ausführlicher lautet das Zitat:
»Die Lebenssituationen, in die wir geführt werden, statten uns mitunter auch aus mit Widerstandskräften, die wir heute, ungestört und im Wohlstand lebend, noch gar nicht kennen. Wir sind stärker als unsere Angst es uns einredet (…). Und wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben (…). Wir haben andere Probleme ertragen und wir haben sie bewältigt. Und das Land ist nicht gescheitert an Not, sondern das Land hat sich gestärkt in Zeiten der Not. Hat wieder zu sich gefunden (…). Meine Lebenserfahrung ist: Wir verfügen über mehr Kräfte, als wir heute, wenn wir sie noch nicht brauchen, denken.«
Kraft im Widerstand
Man kann angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse den Eindruck gewinnen, dass sich allmählich bewahrheitet, was Gauck im Frühjahr beschrieb. Objektiv sind die Sorgen der meisten Bürger vermutlich nicht kleiner als vor zwei, drei Monaten, und doch scheint sich eine gewisse Widerstandskraft, ein gewisser Trotz breitzumachen, der Wille, sich die Laune trotz allem nicht ganz verderben zu lassen. Eine seit dem Jahr 1996 immer wieder gestellte Frage des Allensbacher Instituts lautet:
»Finden Sie, dass die Verhältnisse in Deutschland heute Anlass zur Beunruhigung bieten, oder finden Sie das nicht?«
1996 fanden 73 Prozent der Bevölkerung, dass die Verhältnisse Anlass zur Beunruhigung böten. 2010 war der Wert auf 51 Prozent gesunken. Während der Corona-Krise stieg er 2021 auf 65 Prozent. Im Oktober dieses Jahres erreichte er dann mit 80 Prozent seinen bisherigen Höchststand. Aktuell liegt er mit »nur« noch 73 Prozent wieder auf dem Niveau von 1996. In Baden-Württemberg liegt er mit 71 Prozent geringfügig darunter.
Die aktuelle Krise löst, wie beschrieben, vielfältige Sorgen bei den Bürgern aus: Sorgen um den Frieden und die eigene finanzielle Lage. Doch sie scheint auch dazuzuführen, dass sich der eine oder andere wieder stärker als in den vergangenen Jahren auf das Wesentliche besinnt und sich der Tatsache bewusst wird, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand nicht selbstverständlich sind.
»Trotz aller Schwierigkeiten schlägt sich Deutschland inmitten der Krise doch recht gut.«
Zwei Drittel der Befragten in Baden-Württemberg stimmten dieser Aussage zu, nur 16 Prozent widersprachen.
Die Chancen in der Krise
Bei einer anderen Frage wurden etwas längere Aussagen zur aktuellen Situation und das kommende Jahr vorgelegt, mit der Bitte, alle auszusuchen, denen man zustimmt.
Hier wurden, passend zur allgemeinen Stimmung, oft pessimistische Aussagen ausgewählt, 67 Prozent der Befragten im Südwesten sagten, sie rechneten damit, dass die Preise weiter steigen. 59 Prozent wählten den Punkt:
»Ich befürchte, dass es nächstes Jahr auf der Welt mindestens genauso gewalttätig weitergeht«
53 Prozent sagten:
»Ich erwarte ein finanziell hartes Jahr 2023, wir werden den Gürtel enger schnallen müssen.«
Doch ähnlich große Zustimmung erhielten auch zwei Aussagen, die einen ganz anderen Tonfall anstimmten. 56 Prozent in Baden-Württemberg wählten den Punkt:
»Das Gute an den aktuellen Krisen ist, dass uns in Deutschland mal wieder vor Augen geführt wurde, dass Freiheit und Wohlstand nicht selbstverständlich sind.«
Noch mehr, 62 Prozent, entschieden sich für die Aussage:
»Man muss dankbar dafür sein, dass es uns in Deutschland trotz der Krisen noch so gut geht.«
Silberstreifen am Horizont
Fast zwei Drittel der Menschen in Baden-Württemberg spüren also zum Ende des, wie sie selbst sagen, schlimmsten Jahres seit Langem, trotz aller Sorgen, die die Probleme, die einen noch vor einem Jahr umtrieben, vergleichsweise klein erschienen ließen, Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass man in Freiheit und Wohlstand leben kann. Wahrscheinlich werden viele dies bewusster empfinden als noch vor einigen Monaten. Das Jahr 2022, das den Krieg in Europa zurückbrachte, Energieknappheit und eine Teuerung, wie man sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte, geht zu Ende. Es ist keineswegs sicher, dass das nächste Jahr besser wird, aber zaghaft wächst die Zuversicht, dass man schon irgendwie zurechtkommen wird. Die Nächte sind lang, aber am Horizont ist ein Licht zu sehen. Im kommenden Jahr werden die Tage wieder länger.
Zur Person
Dr. Thomas Petersen ist Projektleiter am Institut für Demoskopie (IfD) in Allensbach. Hier ist er regelmäßig an Umfragen zu unterschiedlichsten Themen beteiligt. Das IfD in Allensbach gehört, laut eigener Aussage, zu den renommiertesten Umfrageinstituten Deutschlands.
Autor:Redaktion aus Singen |
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