Ist die Sommersonne wichtiger als eine Wertegemeinschaft?
(K-) ein Silberjubiläum für Europa

Entscheiden wir am Sonntag wirklich darüber, wer erster vom Parlament gewählter Präsident der Europäischen Kommission wird? Das scheint für Journalisten und Politikbegleiter jetzt schon zur Schicksalsfrage dieser Europawahl zu werden. Oder zaubern Merkel und Co. irgendeinen anderen Kompromisskandidaten aus dem Zylinder, der gerade einen neuen wohldotierten Job braucht? Vorurteile sind beim Thema Europa schnell bei der Hand, dabei hat sich in just 35 Jahren viel geändert. Eines ist geblieben: Das Ost-West-Thema! Heute geht es um die Ukraine, 1979 stand der Natodoppelbeschluss vor der Tür. Strittig war das Thema damals allemal. Bis heute hält sich unter Politikwissenschaftlern die These, dass ohne die Härte des Westens beim Natodoppelbeschluss die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre. Was damals Antiamerikanismus war, stellt sich heute wieder auf andere Weise ein. Und was kann ein starkes Europa da für den Frieden und wirtschaftliche Prosperität leisten?

Was bewegt unsere Welt damals wie heute? Eines ist sicher: Die deutsche Position hat sich grundlegend geändert. Wir kamen nach dem furchtbaren Krieg, den Deutschland in fast allen europäischen Ländern geführt hat, als Bittsteller nach Europa. Heute dominiert die wirtschaftliche Stärke, die zu manchem Übermut führt. Nein, am deutschen Wesen muss auch dieses heutige Europa nicht genesen! Aber wir haben einen gefährlichen Themenwechsel zu verzeichnen. Da wird die Tageszeitung mit der Titelzeile „Endlich Sonne“ in dieser Woche zum Gradmesser. Da sind die Billigflüge in den Urlaub zum Gradmesser dessen geworden, was Europa zu leisten hat. Was ist aus dem „gemeinsamen Haus Europa“ geworden, von dem Helmut Kohl einst sprach? Oder Charles de Gaulles „Europa der Vaterländer“? Wo sind die realen Utopien, die wir alle brauchen?

Bei der Frage, wo wir herkommen, fallen mir zwei Begriffe ein: Städtepartnerschaften und Volksbund

Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Damit sind Erinnerungen und Emotionen verbunden. Singen hatte bei der neuen „Versöhnung über den Gräbern“ eine besondere Rolle gespielt, als 1969 mit La Ciotat die erste Partnerschaft beschworen wurde. Sie war an viele persönliche Freundschaften geknüpft und entwickelte über den einen Jugendaustausch während der Sommerferien hinaus eine eigene Dynamik. Deutsch-französische Partnerschaft hatte das Singener Gymnasium 1967 bereits gepflegt. Da gab es den ersten Schüleraustausch mit dem Lyceé Montereau nahe Paris. Das war ein Stück fundamentale politische Begegnung. So war Schüler, den ich aufgenommen hatte, ein überzeugter Trotzkist! Was das bedeutete, wissen nur echte 68er!

Die zweite Singener Städtepartnerschaft mit Pomezia war direkt mit der Kriegsgräberfürsorge verbunden, denn die Alu-Jugend hatte hier Vorarbeiten geleistet. Wie sehr diese praktische Friedensarbeit verbindet, habe ich selbst 1976 als Leiter einer Kriegsgräberfahrt nach Wassigny in Nordfrankreich erlebt. Ein verwahrloster Soldatenfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg lag dort mitten im Ort. Und dann kamen Bewohner und sagten: „Endlich kümmert Ihr Euch um Euren Friedhof!“ Wo wir uns befanden, hatten wir im Camp beim Graben für die Löcher der Fahnenstangen der Symbole der Kriegsgräberpflege gespürt: Wir befanden uns auf den Ruinen von durch Krieg zerstörten Häusern!

Diese Emotion für Europa ist weitgehend auf der Strecke geblieben. Wir können nicht nur überall hin reisen, wir sind gar Urlaubsweltmeister. Und zugleich finden viele, dass eben Heiz geil ist! 1979 war das Umweltbewusstsein auf dem Vormarsch, der Einzug der Grünen ins Europaparlament nur logisch. Ihre Wahl war auch ein Stück Protest. Opposition könnte sich heute ganz anders darstellen, wenn es immer wieder um das ungeliebte und doch heiß begehrte Geld geht. Dieser Trend wird durch die merkwürdige Behandlung der Rente mit 63 in Deutschland genährt. Da kommt alles in einen Topf und nährt die legendäre „German Angst“. Bei der Rentendebatte in den Medien kommt man sich vor wie bei der Opernarie: Er wird sterben, er stirbt, er ist gestorben… Da wird die Karte der Zukunftsangst gespielt, Klischees und Vorurteile bedient, bis die Werturteile tief im Hirn einzementiert sind.

Ja, die Karte „Europa“ wird auf vielfältige Weise gespielt. Hinzu kommt die Angst vor einem Europa der Rechten. Das alles strömt auf einen unsicheren Wähler ein. Und die Wertegemeinschaft? Die hat uns Putin vorgespielt, indem er spätestens seit Snowden alles kontakariert, was unsere eigene Identität ausmacht. Und wo bleibt die Frage, wessen Sonne über Europa aufgeht? Etwa Putins Sonne über der Ukraine? Ja, da war noch was. Kobeljaki ist unsere jüngste Partnerstadt. Und was tun Willi Waibels Nachfolger für den Kontakt heute? Die „Freundschaft über den Gräbern“ hat die neue Generation wohl noch nicht erreicht.

Von Hans Paul Lichtwald

- Redaktion

Autor:

Redaktion aus Singen

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