Der blinde Fleck der Aufklärung:
Liebe, Sex und solche Sachen
Singen. Sexuelle Aufklärung liegt – zu gegebener Zeit – eigentlich in der Hand von Bildungseinrichtungen oder den Eltern. Eigentlich, denn zum Beispiel für Menschen mit Behinderung besteht hier Nachholbedarf.
Dieser Lücke will sich die Caritas Singen-Hegau nun annehmen, bei der Auftaktveranstaltung am Montag, 23. Januar, um 16 Uhr im Treffpunkt Horizont gab es schon einen Einblick in das Projekt »Liebe, Sex und solche Sachen – der Weg zur selbstbestimmten Sexualität«. Für den Zeitraum von September 2022 bis August 2025 steht zudem eine Fördersumme über rund 100.000 Euro von »Aktion Mensch« zur Verfügung. Die Projektleitung liegt bei Sandra Nicolaus von der Caritas Singen Hegau, als Partner für die Umsetzung ist die Beratungsstelle pro familia in Singen mit an Bord.
Nach den einleitenden Worten von Wolfgang Heintschel, Vorstand des regionalen Caritas-Verbands, erläuterte Nicolaus selbst das Ziel des Projekts. Denn wo die Mitarbeitenden in Betreuungseinrichtungen Fragen aus dem Bereich Sexualität ihr zufolge bislang »eher intuitiv beantworten«, wolle man sexualpädagogische Konzepte für Lösungen und Antworten etablieren. Wohl das Kernthema ist dabei die Aufklärung, so wolle man zum Beispiel Texte in leichter Sprache formulieren, um Menschen mit kognitiven Einschränkungen den Zugang zu diesem Wissen zu erleichtern. Denn gerade in der Aufklärung, so auch der weitere Eindruck der Veranstaltung, besteht meist der größte Bedarf und zugleich auch der wirkungsvollste Hebel bei augenscheinlichen »Problemen«.
Inhalte sind dabei grundlegende Dinge, wie die Sexualanatomie, aber auch Geschlechtsverkehr und Kinderwunsch. Denn seit der Einführung des Artikels 23 der UN-Behindertenrechtskonvention besteht eine Pflicht zur »Gleichberechtigung mit anderen in Fragen der Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft« der eingeschränkten Personen. Das Projekt, auch in Zusammenarbeit mit externen Stellen wie der pro familia Singen, wolle einen »Standard zum Voranbringen der sexuellen Selbstbestimmung schaffen«, so Sandra Nicolaus.
Aufklärung als Lösung
Im Anschluss gab Susanne Hasel in ihrem Vortrag einen Einblick in ihre Arbeit als Sexualberaterin und -pädagogin. Nicht nur als Rednerin, sondern auch als direkte Ansprechpartnerin für Einrichtungen wirkt sie in der Entwicklung sexualpädagogischer Konzepte mit. Da auch Menschen mit Beeinträchtigung nicht selten Opfer sexuellen Missbrauchs würden, so Hasels Bericht aus ihrer täglichen Arbeit, hat sie sich unter anderem als Fachkraft für Prävention und Intervention gegen sexuelle Gewalt weitergebildet. Ihren Erfahrungen nach fehlen vielen Betroffenen die passenden Worte, um im Falle eines Missbrauchs darüber zu berichten. Durch eine entsprechende Aufklärung könne diese Lücke geschlossen und Taten zur Anzeige gebracht werden. Ebenfalls sei die Erfahrung der Sexualpädagogin, dass es bei Menschen mit Behinderung nicht selten üblich sei, diese zu sterilisieren oder präventiv hormonelle Verhütungsmittel zu verwenden. Komme dann doch der Wunsch nach einer Elternschaft auf, sei dies nicht mehr möglich, oft zum Unwissen der Betroffenen. Hier könne Aufklärung über die Bedeutung einer Elternschaft und ein »Baby auf Probe« mit einer Simulationspuppe diese medizinischen Eingriffe anderweitig ersetzen.
Loslösen der Eltern erzwingen
Auch davon, dass Menschen mit Beeinträchtigung selbst auffällig werden können, berichtete die Rednerin. Entgegen der Vermutung, dass hier beispielsweise nudistische oder pädophile Tendenzen dahinterstünden, stecke meist ebenso die mangelhafte Aufklärung im Kern des Ganzen. »Oft stellt sich in solchen Fällen heraus, dass die Menschen das Alter nicht zuordnen konnten und sich eigentlich einen erwachsenen Partner wünschen«, erzählte Susanne Hasel. Während die Pubertät den »Prozess des Loslösens der Eltern erzwingt«, würden eingeschränkte Personen häufig ihr Leben lang als Kinder behandelt. Hasel betonte, dass auch bei Menschen mit Behinderung eine Entwicklung notwendig sei, vom Kind zu einem »Erwachsenen mit Bedarf an Assistenz« – inklusive des erwachsenen Selbstbilds. Dadurch und mit der entsprechenden Aufklärung könnten sie ein Verständnis entwickeln für angenehme und unangenehme Gefühle und Berührungen, für die eigene Privat- und Intimsphäre, aber auch für die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum.
Gegenseitige Offenheit
Dass in Einrichtungen auch das Betreuungspersonal mit Situationen konfrontiert werde, die möglicherweise ihren Moralvorstellungen widersprechen, machte die Sexualpädagogin ebenfalls klar. Das gelte nicht nur für Selbstbefriedigung oder pornografische Inhalte, sofern sich beides in einem legalen Rahmen bewege. Menschen mit kognitiven Einschränkungen seien meist flexibel in ihrer sexuellen Orientierung und wechseln diese teils schnell, auch für Polygamie seien viele offen. Hier sei es maßgeblich, dass eine gegenseitige Offenheit vorherrsche, da nur so ein Vertrauensverhältnis ohne Scham- und Schuldgefühle auch in sexuellen Fragen entstehen kann.
Denn, so auch die Worte von Sandra Nicolaus: »Alle Menschen kennen ihre eigenen Bedürfnisse am besten.«
Autor:Anja Kurz aus Engen |
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