Interview mit Chefarzt Prof. Jan Harder vom Krebszentrum Hegau-Bodensee am Klinikum Singen
»Krebs ist der Kollateralschaden der Evolution«
Singen. Das Krebszentrum Hegau-Bodensee am Klinikum Singen wurde jüngst einer Rezertifizierung unterzogen. Dabei wurde deutlich: Nach den Tumorzentren an den Universitätskliniken ist das in Singen eines der großen Krebszentren in Baden-Württemberg.
Das Wochenblatt sprach aus diesem Grund mit Zentrumsleiter Chefarzt Prof. Jan Harder über die aktuellen Entwicklungen in Sachen Krebs, die Vorteile, die eine Zertifizierung für die Patienten bringt und die Frage, ob die Diagnose Krebs heutzutage ihren Schrecken verloren hat.
Wochenblatt: Man hat in den vergangenen Monaten immer wieder gehört, dass viele Menschen sich aufgrund von Corona nicht getraut haben, zu Krebsvorsorgeuntersuchungen zu gehen. Macht Ihnen das große Sorgen und spüren Sie vielleicht sogar schon Auswirkungen davon?
Jan Harder: »Ja, darüber gibt es sogar schon wissenschaftliche Untersuchungen aus England, die das bestätigen. Das hat Auswirkungen auf die Stadien der Krebserkrankungen, also die Menschen kommen mit fortgeschritteneren Krebserkrankungen und wahrscheinlich haben wir noch gar nicht die gesamte Konsequenz mitbekommen, weil sich das erst im Laufe der nächsten Jahre zeigen wird. Wenn man ein Jahr lang die Vorsorge aussetzt, wird man das schon merken. Auch wir stellen fest, dass mehr fortgeschrittene Tumore bei uns auflaufen, auch wenn es dazu noch keine statistischen Daten gibt.«
Wochenblatt: Aus der Sicht eines Laien scheint die Zahl der Krebserkrankungen anzusteigen. Ist Krebs eine Volkskrankheit geworden?
Jan Harder: (lacht) »Nein, da hat sich eigentlich nichts verändert. Die Tatsache ist aber, dass wir immer älter werden. Mein Schlagwort ist: Krebs ist der Kollateralschaden der Evolution: Damit wir uns evolutionär weiterentwickeln konnten, haben wir uns immer wieder verändert durch zufällige Mutationen. Dieses Prinzip hat im Laufe von Millionen Jahren dazu geführt, dass wir uns immer wieder verbessert haben. Wenn man dieses Prinzip aber nun auf den einzelnen Menschen überträgt, dann lässt sich beobachten, dass solche Mutationen auch im Laufe des Lebens auftreten. Da wir eine ständige Zellteilung haben, kommen auch Fehler bei der Replikation vor, weil der Ableseapparat für das Genom nicht immer korrekt funktioniert. Das führt zu Mutation und es bedeutet, dass eigentlich jeder Mensch irgendwann Krebs bekommen würde, wenn er alt genug wird. In der heutigen Zeit, wo die Lebenserwartung stetig steigt, sie liegt aktuell bei 82 Jahren, führt das dazu, dass die Zahl der Krebserkrankungen, die man wahrnimmt zu steigen scheint. Numerisch ist das auch der Fall, aber es liegt daran, dass wir deutlich mehr Menschen haben, die älter sind als 50 oder 60. Daneben gibt es aber auch Krebsarten, die Lifestyle-assoziiert sind. Leberkrebs zum Beispiel, der aufgrund von Fettleber entstehen kann.«
Wochenblatt: Wie haben sich denn in den letzten Jahren die Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten verändert?
Jan Harder: »Die haben sich stetig verbessert. Insgesamt betrachtet sind wir mit der Quote der Patienten, die wir heilen können, jetzt bei 60 Prozent, aber diese Quote nimmt alle fünf bis zehn Jahre zu. Aber man muss bedenken, wenn Sie das, was ich gerade erklärt habe, mit in die Betrachtung einbeziehen, kann es auch sein, dass nach einer erfolgreich überstandenen Krebserkrankung die nächste schon vor der Tür stehen kann. Unabhängig von der ersten.«
Wochenblatt: Gibt es die Möglichkeit zur Vorbeugung?
Jan Harder: »Was man verändern kann, sind die Noxen (Anm. d. Red.: Noxen sind Stoffe oder Umstände, die eine schädigende Wirkung auf einen Organismus oder auf ein Körperorgan ausüben), die zu vermehrten Zellmutationen führen. Das können zum Beispiel irgendwelche Entzündungen im Körper sein, die sich zum Beispiel durch Impfungen verhindern lassen. Wichtig ist auch Sonnencreme zu verwenden, weil die UV-Strahlung relativ mutagen ist.«
Wochenblatt: Nun wurde das Krebszentrum Hegau-Bodensee gerade erst wieder rezertifiziert. Was bedeutet das?
Jan Harder: »Es gibt einen nationalen Krebsplan, in dem die Bundesregierung festgelegt hat, wie sie sich die Krebsversorgung in Deutschland vorstellt. Dazu gehört ein Qualitätssicherungssystem, das sicherstellen soll, dass gewisse Standards eingehalten werden. Damit wurde die deutsche Krebsgesellschaft beauftragt. Zentren, die eine gewisse Qualität und eine gewisse Quantität an Krebsbehandlungen liefern, können sich zu einer Zertifizierung anmelden. Das bekommt man aber nur hin, wenn man eine ausgesprochene Vernetzung und hohe Qualitätskriterien hat.«
Wochenblatt: Welche Vorteile bringt das für die Patienten?
Jan Harder: »Die bekommen eine qualitätsgesicherte Behandlung, die auch garantiert ist. Wenn ein Zentrum nicht zertifiziert ist, wird dort auch nicht die Qualität der Behandlung überprüft. Inzwischen ist auch wissenschaftlich bewiesen, dass Patienten, die in zertifizierten Zentren behandelt werden, eine höhere Überlebenschance haben.«
Wochenblatt: Wie aufwändig ist denn ein solches Zertifizierungsverfahren?
Jan Harder: »Die Vorbereitung dauert für uns ein ganzes Jahr, die Zertifizierung selbst dauert dann mehrere Tage. Da wird alles sehr genau angeschaut. Da werden zum Beispiel auch Prozesse und Abläufe auf den Prüfstand gestellt. Wir müssen alle Patientenakten vorlegen, aus denen zufällige Fälle herausgezogen werden, bei denen dann überprüft wird, ob diese richtig behandelt wurden. Ich vergleiche es immer mit einer Klassenarbeit. Jedes Jahr gibt es ein Überwachungsaudit und alle drei Jahre eine Rezertifizierung.«
Wochenblatt: Wie sieht die Zusammenarbeit im Netzwerk des Krebszentrums aus?
Jan Harder: »Die vielen verschiedenen Fachabteilungen, aber auch die ambulanten Kooperationspartner sitzen in allen Lenkungsgremien, aber auch in den Tumorkonferenzen. Dabei handelt es sich um das Herz des Krebszentrums. Alle Krebsfälle, die bei uns aufschlagen, werden nach der ersten Diagnose einmal pro Woche in den Tumorkonferenzen mit allen Expertinnen und Experten besprochen. Das sind bis zu 20 Personen aus unterschiedlichen Fachgebieten. In dieser Runde wird besprochen, was die beste Behandlungsmöglichkeit für den jeweiligen Patienten ist. Und das betrifft immerhin fast 2.000 Fälle pro Jahr.«
Wochenblatt: Wenn Sie in die Zukunft schauen, wo geht der Weg hin für das Krebszentrum?
Jan Harder: »Es wird immer mehr Krebsarten geben, die zu unserem Zertifizierungs-Spektrum dazukommen. Zuletzt war es das Modul Niere, als Nächstes kommt Harnblasenkrebs dazu und danach Leukämien und Lymphome. Das wird so lange erweitert, bis alle Krebsarten mit drinnen sind. Man baut das stufenweise auf, damit am Ende alle nach den gleichen Qualitätskriterien behandelt werden können. Vor zehn Jahren haben die Zertifizierungskriterien eigentlich nur für Brustkrebspatienten gezählt.
Zudem wird die molekulare Medizin eine wichtige Herausforderung. Die Tumore werden bei uns also immer mehr molekular analysiert. Das heißt, es spielt dann weniger eine Rolle, aus welchem Organ der Tumor kommt, sondern mehr wie er aufgebaut ist. Das ermöglicht eine zielgenauere Behandlung und neue Therapiemöglichkeiten. Ein weiteres Ziel ist, mehr Patienten in wissenschaftlichen Studien zu behandeln, um sie an dem medizinischen Fortschritt teilhaben zu lassen. Dazu haben wir im Hegau-Bodensee Klinikum Singen ein Studienzentrum gegründet.«
Wochenblatt: Viele Menschen haben noch immer große Angst vor der Horrordiagnose Krebs. Ist das heutzutage noch begründet?
Jan Harder: »Über 60 Prozent der Krebserkrankungen können wir heilen, viele sind so gut therapierbar, dass man viele Jahre ohne große Probleme mit der Erkrankung leben kann. Wichtig ist es, rechtzeitig einen Arzt aufzusuchen und die Vorsorge nicht zu vernachlässigen. Man sollte nicht denken »Das wird schon wieder«, sondern lieber einmal zu oft zum Arzt gehen. Spätestens wenn Beschwerden länger als zwei Wochen anhalten, wird es Zeit. Dann stehen die Chancen auch sehr gut, dass wir sehr viele Krebsarten heilen können. Insofern hat die Diagnose tatsächlich etwas von ihrem Schrecken verloren.«
Autor:Ute Mucha aus Moos |
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