Brandbrief der Caritas Singen-Hegau:
»Der Pflegekollaps steht drohend vor der Tür«
Singen/Hegau. »Für uns ist die Lage dramatisch.« Mit diesen Worten fassen Wolfgang Heintschel und Oliver Kuppel als Vorstand des Caritasverbandes Singen-Hegau die Situation in der Pflege und der Betreuung von Menschen mit Behinderung zusammen, nachdem das Landratsamt Konstanz die ersten Anhörungen im Bußgeldverfahren gegen ungeimpfte MitarbeiterInnen im Rahmen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht verschickt hat.
Nach einigen Kündigungen Anfang des Jahres treffen nun täglich weitere Kündigungen von zum Teil langjährigen Fachkräften aus der Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderung bei der Caritas ein. »Die MitarbeiterInnen, die nicht geimpft oder genesen sind, warten nicht, bis das Bußgeld oder gar ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen ist. Sie ziehen ihre Konsequenzen jetzt«, befürchtet Wolfgang Heintschel.
Auffangen müssten dies nun die geimpften MitarbeiterInnen mit noch mehr Überstunden und Wochenenddiensten. »Wir befürchten, dass aber auch hier MitarbeiterInnen bald kündigen werden, weil sie am Rande der Erschöpfung und ihrer Belastungsgrenze sind«, so Wolfgang Heintschel und betont: »Zum wiederholten Mal müssen wir darauf hinweisen, dass die Versorgungssicherheit in unserer Region gefährdet ist – der Pflegenotstand steht drohend vor der Tür.«
Aus diesem Grund appellieren er sowie Oliver Kuppel und der Aufsichtsratsvorsitzende Dekan Matthias Zimmermann eindringlich an die Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und Gesellschaft: »Bitte setzen Sie die einrichtungsbezogene Impfpflicht aus!« In einem Brandbrief legen sie ihre Argumente für diesen Appell ausführlich dar (siehe unten).
Zu diesem brisanten Thema nehmen unsere drei Bundestagsabgeordneten Dr. Lina Seitzl (SPD), Dr. Ann-Veruschka Jurisch (FDP) und Andreas Jung (CDU) Stellung.
Dr. Lina Seitzl, SPD:
»Geimpfte sind nachweislich weniger infektiös und besser vor schweren Corona-Erkrankungen geschützt, auch bei den neuen Virusvarianten. Wir haben die einrichtungsbezogene Impfpflicht eingeführt, um vulnerable Gruppen besser zu schützen. Im Gesundheitswesen Tätige haben täglich intensive Kontakte zu Personengruppen, für die eine Infektion mit COVID-19 ein hohes Risiko birgt. Daraus wächst für die Beschäftigten in allen medizinisch-pflegerischen Berufen eine besondere Verantwortung. Ein Aussetzen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht würde zudem zu coronabedingten Mehrausfällen beim Personal führen. Wichtig ist es, dem Fachkräftemangel und der hohen Arbeitsbelastung in Pflegeberufen mit attraktiven Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen entgegenzuwirken.
Das Pflegebonusgesetz und der steuerfreie Pflegebonus können dabei nur ein Anfang sein. Im Koalitionsvertrag haben wir daher die Abschaffung von Ausbildungsgeldern, eine solide Ausbildungsvergütung, Weiterbildungsmöglichkeiten für Menschen inmitten ihres Erwerbsalters und die gezielte Förderung von ausbildenden Einrichtungen vereinbart. Auch durch Steuerbefreiungen für Zuschläge, Abschaffung von geteilten Diensten und Einführung von trägereigenen Springerpools für Ausfälle können wir bessere Bedingungen und Entlastung in Pflegeberufen schaffen.«
Dr. Ann-Veruschka Jurisch, FDP:
»Die einrichtungsbezogene Impfpflicht sollte aus meiner Sicht nicht weiter fortgesetzt werden. Die Regelung wurde zu einer Zeit – auch von der FDP – verabschiedet, als noch die Delta-Variante vorherrschte und man davon ausging, dass eine Impfung das Übertragungsrisiko deutlich senkt. Damit wollte man in einer Krisensituation besonders gefährdete Menschen, zum Beispiel in Heimen, schützen. Das hat im Moment der Entscheidung Sinn ergeben, aber schon bald danach nicht mehr. Mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht kann das ursprünglich bezweckte Ziel – ein verbesserter Schutz von Patienten und Heimbewohnern – nicht erreicht werden. Auch verhindert die Impfung nicht, dass Personal wegen einer eigenen Corona-Erkrankung ausfällt. (An dieser Stelle möchte ich aber klarstellen, dass die Impfung in der Regel zu signifikant milderen Verläufen führt und deshalb Impfen nach wie vor sehr sinnvoll und wichtig ist.) Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist also rundum ein ungeeignetes Mittel. Ich hoffe, dass sich in der Koalition eine Mehrheit für die Abschaffung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht finden lässt; die FDP regiert ja nicht alleine.«
Andreas Jung, CDU:
»Vorneweg: Wer sich impfen lässt, schützt sich selbst und andere – diese Überzeugung war ausschlaggebend bei der Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Gesundheitsversorgung. Den Appell der Caritas nehme ich gleichwohl sehr ernst. Die Sorge um die personelle Ausstattung der Einrichtungen wurde mir schon zu deren Inkrafttreten auch von anderen Trägern geschildert. Bis zum heutigen Tag kann die Bundesregierung keine genauen Angaben über die Auswirkungen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht machen. Damit fehlen belastbare Informationen über die Wirkung dieser Maßnahme. Diese sind aber mit Blick auf die Frage einer Fortsetzung hinaus sehr relevant. Mit unserer Fraktion haben wir deshalb Anfang Juli einen Antrag im Bundestag zur Vorbereitung auf den Herbst und zur Verbesserung des Pandemiemanagements gestellt. Darin fordern wir die Bundesregierung unter anderem auch dazu auf, dem Deutschen Bundestag bis zum 31. August 2022 einen Evaluationsbericht über die bisherige Wirkung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht vorzulegen. Sollten keine eindeutigen Fakten für eine Verlängerung geliefert werden, spricht aus unserer Sicht viel dafür, die Maßnahme spätestens Ende des Jahres zu beenden. Wichtig ist unabhängig davon die ständige Weiterentwicklung aller Schutzmaßnahmen, etwa von Hygienekonzepten.«
Hier der Brandbrief des Caritasverbands Singen-Hegau, der an die Verantwortlichen im Landratsamt Konstanz, an die Bundestags- und Landtagsabgeordneten verschickt wurde:
»Setzen Sie die einrichtungsbezogene Impfpflicht aus!«
»Menschen, die aufgrund ihres Alters, einer Pflegebedürftigkeit oder Behinderung einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, brauchen einen besonderen Schutz vor Corona. Das stellt niemand ernsthaft in Zweifel. Aber sie brauchen auch Menschen, die ihnen helfen, sie pflegen und begleiten. Sonst nutzen die besten Schutzmaßnahmen nicht!
Es wird Zeit, die positiven und negativen Auswirkungen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht realistisch zu betrachten und neu zu bewerten!
Bereits im Januar haben wir die Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und öffentlicher Verwaltung vor den fatalen Folgen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gewarnt.
Unsere Hoffnung auf eine politische Lösung oder eine verwaltungstechnische Aussetzung der Impfpflicht hat sich jedoch nicht erfüllt. In diesen Tagen wurden die ersten Anhörungen im Bußgeldverfahren an MitarbeiterInnen unserer Einrichtungen verschickt. Allen, die nicht nachweisen können, dass sie geimpft oder genesen sind oder aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, droht nun ein empfindliches Bußgeld oder gar ein Betretungs- und Beschäftigungsverbot. Wir befürchten ernsthaft, dass nun weitere MitarbeiterInnen kündigen werden.
Der Vorstand und der Aufsichtsrat des Caritasverbandes Singen-Hegau wenden sich erneut eindringlich an die Öffentlichkeit. Die Versorgungssicherheit vieler Menschen in unserer Region ist gefährdet.
Daher unser Appell: Setzen Sie die einrichtungsbezogene Impflicht aus!
Unsere Befürchtungen sind bereits heute eingetreten:
Der Personalnotstand in unseren Einrichtungen verschärft sich weiter
Schon die Ankündigung der Impfpflicht hat dazu geführt, dass ein Teil unseres Personals gekündigt hat und nun in angrenzenden Nachbarländern oder anderen Berufen arbeitet. Uns fehlt jede einzelne Mitarbeiterin und jeder einzelne Mitarbeiter!
In Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels brauchen wir jede Hand – und nicht Maßnahmen, die noch mehr Menschen aus diesen wichtigen Berufsfeldern vertreiben.
Der Pflege- und Betreuungsnotstand ist bei uns längst Alltag, der Pflegekollaps steht drohend vor der Tür!
Zunehmend verhängen wir in unseren Einrichtungen Aufnahmestopps und müssen selbst dringende Anfragen absagen. Einfach weil das erforderliche Personal fehlt. Das Leid der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen, die verzweifelt und oft vergeblich nach Hilfe suchen, ist meist still und leise, und so wird die neue Realität in der Pflege von vielen Menschen weder wahr- noch ernst genommen.
Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird als diskriminierend empfunden
Viele Fachkräfte in der Pflege oder in den Einrichtungen der Behindertenhilfe erleben die Ungleichbehandlung bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht als ungerecht. Ausgerechnet die Menschen, die sich in der Corona-Pandemie bis zum Rand ihrer Kräfte für ihre Mitmenschen eingesetzt haben und dies bis heute tun, werden nun als einziger Berufszweig mit Grundrechtsbeschränkungen konfrontiert. Und das in einer Welt, in der gerade fast alle Corona-Beschränkungen fallen.
Wie sollen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in dieser Situation für ihre anspruchsvolle Arbeit die Wertschätzung erfahren, die sie verdienen? Einmal Klatschen ist einfach zu wenig!
Und wir als Träger von sozialen Einrichtungen haben eine massive Erklärungsnot:
Wie sollen wir junge Menschen für eine Arbeit in der Pflege oder für eine Arbeit mit Menschen mit Behinderung begeistern? Wie können wir ihnen noch vermitteln, dass sie bei uns großartige und sinnstiftende Berufe finden?
Die einrichtungsbezogene Impfpflicht verfehlt ihr Ziel
Die ursprüngliche Hoffnung, dass die Impfpflicht eine positive Wirkung zeigt, hat sich leider nicht erfüllt. Wir müssen bei der Omikron-Variante feststellen, dass auch viele Geimpfte das Virus übertragen können. Hier stellt sich die Frage, ob in dieser Situation ein so schwerwiegender Rechtseingriff gegenüber den Beschäftigten in der Pflege und in den Einrichtungen der Behindertenhilfe noch gerechtfertigt ist.
Das Ziel, Infektionen in Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern so gut wie möglich einzudämmen, konnte jedenfalls bis heute nicht erreicht werden. Auch wenn unser Personal eine hohe Impfquote aufweist, steigen aktuell die Infektionszahlen ebenso an wie andernorts.
Die einrichtungsbezogene lmpfplicht ist daher weitgehend nutzlos und sinnbefreit!
Um es nochmals deutlich auszudrücken:
Als Caritas Singen-Hegau haben wir uns immer klar positioniert, dass wir die Impfung für einen wirksamen Schutz vor Corona – insbesondere auch im Sinne der uns anvertrauten Menschen – sehen. Wir haben unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die Hintergründe und die Folgen von Impfungen regelmäßig und aktiv informiert.
Wir freuen uns, dass es für die allermeisten von unseren MitarbeiterInnen eine Selbstverständlichkeit war, sich zum Schutz unserer Klienten und zum Schutz ihrer Kolleginnen und Kollegen impfen zu lassen.
Unabhängig von der unterschiedlichen Einstellung und Haltung zur Impfung respektieren und schätzen wir jedoch die engagierte Arbeit aller unserer MitarbeiterInnen, ob geimpft oder ungeimpft. Gemeinsam haben wir in den letzten zwei Jahren die riesigen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie gemeistert. Dafür sind wir sehr dankbar! Auch wenn wir die Haltung der Ungeimpften bedauern, werden wir sie nicht bedrängen und wollen sie nicht ausgrenzen.
Politisch schließen wir uns der Linie des Deutschen Caritasverbandes an, der sich für eine allgemeine Impfpflicht einsetzt. Die einrichtungsbezogene Impflicht alleine halten wir jedoch für zu kurz gegriffen und in den Folgen für katastrophal.
Die Auswirkungen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht werden uns in der nächsten Zeit vor massive Probleme stellen, wie wir sie in diesem Ausmaß noch nicht erlebt haben.
Verschärft wird die Situation jetzt noch dadurch, dass ab 1. Oktober zusätzlich von den MitarbeiterInnen eine Auffrischimpfung – oder zwei Impfungen plus durchgemachte Infektion – verlangt wird. Damit besteht die Gefahr, dass uns weitere MitarbeiterInnen verloren gehen beziehungsweise Auszubildende im Herbst nicht übernommen werden können.
Daher bitten wir alle Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft eindringlich:
Setzen Sie die einrichtungsbezogene Impfpflicht aus!«
Wolfgang Heintschel, Vorstand
Oliver Kuppel, Vorstand
Matthias Zimmermann, Vorsitzender des Aufsichtsrates
Autor:Ute Mucha aus Moos |
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