Zangs jüngere Ortsgeschichte zum Inseljubiläum
„Lesen Sie! Sie müssen heute nicht fertig werden“
Reichenau. Die Klosterinsel Reichenau mit ihrer gesegneten und majestätischen Lage inmitten des Untersees und einem prachtvollen, unverstelltem Blick auf das Panorama der Schweizer und Südbadischen Uferlandschaft ist nicht nur eines der schönsten Reiseziele Deutschlands, sondern zählt seit bald 25 Jahren ob seiner weltberühmten Klostergeschichte zum UNESCO-Welterbe. Rechtzeitig zum Jubiläumsjahr 2024 mit Blick auf stolze 1.300 Jahre Geschichte schliesst nun ein fulminantes Werk des Autors und Historikers i.R. Dr. Gert Zang mit dem Titel „Leben auf der Reichenau - von der Klostergeschichte zur Bürgergeschichte 1757-1955“ auf 374 Seiten einschließlich 120 Bildern und Illustrationen eine regelrechte Lücke im kollektiven Gedächtnis der Gemeinde Reichenau.
Zur Buchvorstellung am Sonntagvormittag kamen immerhin gut 300 Besucherinnen und Besucher zur Inselhalle, weshalb sogar zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden mussten. Eingestimmt vom spielfreudigen Bläserquintett der Bürgermusik Reichenau und freundlich-hintersinnig begrüßt von Bürgermeister Dr. Wolfgang Zoll - „Wunderbar, wieviele potenzielle Leser und Leserinnen gekommen sind!“ - unterstrich dieser die Bedeutung des „gewichtigen Werkes“, worin „vieles in unserem Leben auf der Insel vorkommt“, und dankte Zang ausdrücklich für dessen „kolossale Arbeit“: „Wir brauchen diese Bücher“, so Zoll, der an das Jubiläumsjahr 1924 anknüpfte, welches einem damals noch sehr jungen Einheimischen so in Erinnerung blieb: „Es gab Limonade!“
Regine Wehrle, die das Buch von Dr. Zang mit Ehemann Kurt Mattes im Heidelberger „Mattes-Verlag“ aufgelegt hat, ebenfalls von der Reichenau stammt und noch im Rathaus zur Grundschule ging, erinnerte in ihrem Grußwort an jene nicht allzufernen Zeiten, als ihr Typus „Mädchen, katholisch, vom Land“ von Dr. Ralf Dahrendorf an der Uni Konstanz noch als „Bildungs-benachteiligt“ bezeichnet wurde - sie selbst habe beim Lesen des Werkes „viel gelernt über meine und unsere Geschichte“.
Der Autor selbst skizzierte seine kontinuierliche Arbeit über mehr als 6 Jahre hinweg „ähnlich wie die eines Archäologen“, beschrieb sein schrittweises Vorgehen - zeitweilig eingeschränkt durch Corona-Schließungen von Archiven - als „ein Stück Abenteuer, so etwas wie die Erkundung einer unbekannten Höhle“. Zang hofft, dass sein farbiger, auf Originaldokumenten basierender Einblick in das Leben der Menschen auf der Insel, ihren Alltag, ihre Sorgen und Nöte innert dieser 200 Jahre nun auch jene Beachtung findet, die bislang vor allem der Klostergeschichte galt.
Damit folgt er einem alten Wunsch von Bürgermeister Reisbeck aus den 70iger Jahren, die Bürgergeschichte neben die Klostergeschichte zu stellen. Die jahrelange akribische Recherche sowie die profunde Erforschung und Auswertung von Quellen der jüngeren Geschichte der Gemeinde Reichenau ermöglichten eine detaillierte Gliederung des Werkes, welche dem Leser erlaubt, sich jene Abschnitte auszusuchen, „die ihn zunächst am meisten interessieren.“ Es finden sich Zeugnisse der Herausforderungen und Veränderungen in der Gemeinde, die es im Lauf der Zeit zu bewältigen galt - was zum tieferen Verständnis mancher Entwicklungen durch uns heutige Betrachter führen kann.
Aus der „forschenden Entdeckungsreise“, so Zang, wurden vier Lesestücke ausgewählt und vorgetragen: der Autor gab einen Augenzeugenbericht von der gewaltsamen Auflösung des Klosters 1757 wieder, Regine Wehrle warf einen Blick auf die weitverbreitete Armut auf der Reichenau, gefolgt von einer Schilderung eines Ertrinkungstodes durch Naturgewalten auf dem See durch Dr. Zang und einem von Aniceta Wehrle im Dialekt vorgetragenen Abschnitt über die drastischen schulischen und häuslichen Verhältnisse in den 20iger und 30iger Jahren des 20. Jahrhunderts, als körperliche Züchtigungen noch üblich waren.
Karl Wehrle, Vorsitzender des Museumsvereins, zitierte hinsichtlich der umfassenden Arbeit des Historikers Zang bewusst Aristoteles: „Freude an der Arbeit lässt das Werk trefflich gelingen“. Sein Dank ging auch an die Gemeinde, durch deren Unterstützung der aktuelle Verkaufspreis noch unter den Herstellungskosten gehalten werden konnte - „ein Standardwerk, welches in jedem Reichenauer Haushalt zu finden sein sollte“, so Wehrle.
Über all die Jahre hinweg sei „sein ‚Mitarbeiter‘ Zang“ immer um 9:15 Uhr im Büro der Tourist-Info dagewesen, habe alle Akten gelesen und sogar ein Inhaltsverzeichnis aller Akten der Gemeinde im Archiv angelegt, wodurch diese nun schneller zu finden seien und wofür herzlich zu danken sei. Wehrle hob hervor, dass Zang nicht nur Soziologie, Geschichte und Philosophie in München, Tübingen und Konstanz studiert habe, sondern auch Kriminologie - er sei ein „Spurenleser“ und war zudem führend in regionalen Forschungsprojekten.
Nach Wehrle‘s Berechnungen habe Zang gesamt 5.831 Stunden halbtags gearbeitet, zudem Reisen zu Archiven unternommen und Zuhause weitergearbeitet - dies alles „ehrenamtlich, da ist kein Euro geflossen!“, so Wehrle unter großem Applaus. „Ehrenamt ist keine Arbeit, die bezahlt wird - sie ist unbezahlbar!“, fasste der Museumschef dankend zusammen und löste damit langanhaltenden Beifall aus.
Bürgermeister Dr. Wolfgang Zoll brachte es zum Abschluss der Buchvorstellung, die mit der Überreichung der Jubiläums-Goldmedaille der Gemeinde Reichenau an Dr. Zang einen Höhepunkt fand, mit Blick in den vollen Inselsaal auf den Punkt: „Lesen Sie! Sie müssen heute nicht fertig werden!“
Autor:Bernhard Grunewald aus Singen |
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