Stehende Ovationen bei der Premiere von "Karl!"
Über die Liebe, die Annäherung und die Scham

Nach der Premiere war „Karl!“ (Andy Böhny) im Schlussapplaus dann wirklich auf der Bühne der Werkstatt mit Miguel Jachmann, der in dem Stück zu seinem Bruder wurde. | Foto: of
  • Nach der Premiere war „Karl!“ (Andy Böhny) im Schlussapplaus dann wirklich auf der Bühne der Werkstatt mit Miguel Jachmann, der in dem Stück zu seinem Bruder wurde.
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Konstanz. Ob man es glauben mag oder nicht. Schillers Räuber waren indirekt die Vorlage für das Theaterexperiment „Karl!“, schon weil Schillers Franz und Karl Mohr ja zu einem der berühmtesten Brüderpaare gehörten und der Spruch „Nicht Fleisch und Blut, sondern das Herz macht uns zu Vätern, Söhnen und Brüdern“. Dass das Experiment, mit dem Schauspieler Miguel Jachmann ein „Schattenkind“, also einen Bruder mit „Behinderung“ oder „Handicap“ oder auch „Einschränkungen“ in dem Stück immer mehr annähern kann und ihn sozusagen mit seinem Leben verknüpft, welches selbst im Stück nur auf einer riesigen Leinwand auftaucht, mit stehenden Ovationen bedacht wird, zeigt, dass es gelungen war, die Zuschauer der ausverkauften Premiere mit hineinzuziehen in die gewaltigen Gefühlsstrudel, die mit einem solchen Schattenkind verknüpft sind.

Miguel Jachmann steht alleine auf der Bühne, neben den Epilogen Schillers zu Anfang hat er dorthin eigentlich auch nur sein Leben mitgebracht. Jugend in Zürich, Studium im Hamburg, die Bewerbung hier am Theater Konstanz. Jachmann selbst sagte im Vorgespräch, dass er mit solch einem Thema bislang nicht konfrontiert war, nun webt er das „fiktive“ Schattenkind, das in Person von Andy Böhni vom Züricher „Hora“ Theater gar erst nach einer halben Stunde auf der Leinwand sichtbar wird, in sein Leben rein. Es geht um diesen „Bruder“ und wie er sein Leben verändert hat. Das Stück gewährt tiefe Einblicke. Immer wieder der Schauspieler im Porträt, auf den ersten Blick regungslos, aber mit einem Wallen hinter seinen grünen Augen, mitten in den Betonlandschaften von Zürich. Aus der Sicht des Bruders heraus wird über Verantwortung gesprochen – wie das ist, wenn man am Abend mit einem Mädel noch eine Runde auf der Vespa drehen will und vielleicht noch mehr und die Eltern diesen „Karl“ eben dem Bruder zur Obhut wegen Urlaubs übergeben haben, und ihn fühlen lassen, was da kommen wird, wenn sie mal nicht mehr da sind. Und das Publikum muss mehr als zuschauen. Jachmann startet überraschend eine harte Umfrage, die das Publikum mit Fußtrampeln beantworten muss und nimmt dabei auch Tabuworte, wie etwa das vom „unwerten Leben“, in den Mund, streift in die Abgründe von Euthanasie, um das Umfeld zu beschreiben, das solche Geschwister in der Geschichte von uns Menschen immer wieder bedroht. 

Das Publikum selbst ist freilich auf die Gefühlswelt Miguel Jachmanns angewiesen, um zu Karl zu finden. Wie gesagt, er taucht erst spät auf, die Kamera kommt ihm auch nie so nahe wie dem Protagonisten dieses Experiments, das von Susanne Frieling (Regie), Hannah Stollberger (Dramaturgie) Florian Schaumberger (Videokonzept) und Simon Karl Köber (Kamera) hier mit den beiden Schauspielern zu einer packenden Reise durch die Seele und dinglich dann auch ins Säntis-Massiv führt.

Wie aus einem Drucker gespuckt setzt sich dieses Bild vom „Karl!“ immer mehr zusammen, und auf der Leinwand scheitert der Gipfelsturm dann doch, aber den Gipfel der Geschwisterlichkeit hat auch das Publikum stampfend erreicht – mit seiner Ehrlichkeit. Ein Experiment, das allerdings auch nur in dieser Konstellation funktionieren dürfte.

Autor:

Oliver Fiedler aus Gottmadingen

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