Ein Forschungsprojekt der Universität Konstanz
Traumatisierte Gemeinschaften

Psychologin Sabine Schmitt (rechts), Mitarbeiterin der Studie, bei einer Vorbesprechung mit den Interviewer*innen, die im Rahmen von NETfacts die Gespräche mit einer Dorfgemeinschaft führten. | Foto: Amani Chibashimba
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  • Psychologin Sabine Schmitt (rechts), Mitarbeiterin der Studie, bei einer Vorbesprechung mit den Interviewer*innen, die im Rahmen von NETfacts die Gespräche mit einer Dorfgemeinschaft führten.
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Konstanz. Wie können wir die schweren Traumata, die jetzt in den Kriegen in Europa und weltweit entstehen, wirksam aufarbeiten und behandeln? Das Therapiesystem NETfacts zielt auf die ganze Gemeinschaft, die das Trauma erlebt hat – ein Forschungsprojekt der Universität Konstanz und der Hilfsorganisation „vivo international“.

Krieg und Gewalterfahrungen ziehen psychische Spuren nach sich. Opfer von organisierter, sexueller und häuslicher Gewalt sind ihr Leben lang von diesen Traumatisierungen gezeichnet. Ein normales Leben zu führen ist für viele von Ihnen nur schwer möglich. Die aktuellen Kriegsereignisse in Europa und weltweit machen die wirksame Behandlung von Traumata noch wichtiger. Die Konstanzer Traumaforscher*innen Maggie Schauer, Frank Neuner und Thomas Elbert entwickelten vor rund 15 Jahren die Narrative Expositionstherapie (NET) als effektive Therapieform für schwere Traumatisierungen, die auch „mobil“ in Krisengebieten eingesetzt werden kann. Die NET unterstützt die Betroffenen dabei, das traumatische Ereignis zeitlich und damit autobiographisch einzuordnen, zu benennen und zu begreifen. Das häufig als „ungreifbar“ erlebte traumatische Ereignis kann dadurch in einen biographischen Gesamtzusammenhang gestellt und verarbeitet werden; zugleich kommt es zu einer Würdigung der Person und ihrer Biographie.

Von NET zu NETfacts

Aufbauend auf der Narrativen Expositionstherapie hat nun ein Team von Psycholog*innen und Konfliktforscher*innen der Universität Konstanz in Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation „vivo international“ das Therapiesystem NETfacts entwickelt. Ergänzend zur klassischen Narrativen Expositionstherapie, die am Individuum ansetzt, bezieht NETfacts die Gemeinschaft mit ein, in der das traumatische Ereignis stattfand. Warum aber ist es wichtig, das soziale Umfeld mit einzubeziehen? „Die Schuld wird häufig den Opfern zugewiesen. Bereits subtile Stigmatisierungen der Opfer führen dazu, dass es ihnen noch schlechter geht, und blockieren die Aufarbeitung ihres Traumas“, schildert die Konstanzer Psychologin Anke Köbach, die gemeinsam mit Katy Robjant von „vivo international“ das System NETfacts maßgeblich entwickelt hat. Ein Beispiel für solche Stigmatisierungen sind Vergewaltigungsmythen, also Versuche, sexuelle Gewalt zu bagatellisieren bzw. dem Opfer die Schuld zuzuschreiben. „Das Schweigen über die erlebte Gewalt, das Nicht-Anerkennen des Grauens führt nur zu mehr Gewalt“, so Köbach. „Dass sich die Normen verändern und die Geschichte der Opfer anerkannt wird – dafür brauchen wir das soziale Umfeld, und daher setzen wir mit NETfacts auf Ebene der Gemeinschaft an.“

NETfacts in der Praxis

In der Praxis kombiniert NETfacts die Behandlung auf individueller Ebene mit einem kollektiven Prozess. Alle Personen der Gemeinschaft werden zunächst in einem Screening auf Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder signifikanten Aggressionsverhaltens untersucht. Betroffenen Personen wird jeweils eine Behandlung mit der Narrativen Expositionstherapie angeboten. Parallel dazu arbeitet die Gemeinschaft die Historie ihrer traumatischen Ereignisse – zum Beispiel ein (para)militärischer Überfall ihres Dorfes – aus den unterschiedlichen Perspektiven auf. Mit symbolischen Objekten wie Blumen und Steinen (für positive und negative Erfahrungen) wird ein einheitliches Verständnis der „Lebenslinie“ der Gemeinschaft erarbeitet und verbildlicht, mit den traumatischen Ereignissen im Fokus. Auf dieser Grundlage und anhand der detaillierten Trauma-Narrative der NET werden die Ereignisse beleuchtet und explizit sichtbar gemacht; die „kollektive Erinnerung“ der Gemeinschaft wird um die persönlichen Erlebnisse ihrer Mitglieder ergänzt. Dadurch wird einerseits das traumatische Ereignis aufgearbeitet und ihm ein Platz in der Gemeinschaft eingeräumt. Andererseits werden schädliche Narrative wie Stigmatisierungen und Vergewaltigungsmythen in Frage gestellt.

Feldstudie und Ergebnisse
In einer Feldstudie mit insgesamt 1.066 Personen in sechs kriegsgeplagten Gemeinschaften in der Demokratischen Republik Kongo wurde NETfacts eingesetzt und mit Ergebnissen der klassischen NET verglichen. Die Studie wurde aktuell im renommierten Wissenschaftsjournal PNAS veröffentlicht (eine der meistzitierten wissenschaftlichen Zeitschriften, herausgegeben von der National Academy of Sciences der USA). Die Ergebnisse zeigen: Sowohl die klassische NET als auch NETfacts konnten in allen Fällen den Schweregrad von Posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen maßgeblich senken. „Die Anwendung von NETfacts führte darüber hinaus zu einer stärkeren Reduktion der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen und anderer Stigmatisierungen der Opfer“, fasst Anke Köbach zusammen. „Das wichtigste Ergebnis unserer Studie: Mit der Veränderung dieser Normen geht auch die Gewalt zurück – die emotionale und die körperliche Gewalt.“

Faktenübersicht:
•  Originalpublikation: Katy Robjant, Sabine Schmitt, Samuel Carleial, Thomas Elbert, Liliana Abreu, Amani Chibashimba, Harald Hinkel, Anke Hoeffler, Anja C. Rukundo Zeller, Brigitte Rockstroh, Anke Koebach: NETfacts – an integrated intervention at the individual and collective level to treat communities affected by organized violence, published in PNAS, October 2022

•  Studie zur Effektivität von NETfacts im Vergleich zur klassischen Narrativen Expositionstherapie (NET)

•  Durchgeführt in sechs Gemeinschaften in der Demokratischen Republik Kongo (insgesamt 1.066 Teilnehmende,   Altersdurchschnitt 36 Jahre, 51 Prozent (NETfacts) bzw. 53 Prozent (NET) Frauen).

Psychologin Sabine Schmitt (rechts), Mitarbeiterin der Studie, bei einer Vorbesprechung mit den Interviewer*innen, die im Rahmen von NETfacts die Gespräche mit einer Dorfgemeinschaft führten. | Foto: Amani Chibashimba
Amani Chibashimba nach einer NETfacts Sitzung, in der Dorfbewohner*innen die „Lebenslinie“ ihrer Gemeinschaft erstellten. Amani Chibashimba leitet heute das Anschlussprojekt, in dem monatlich mehrere tausend Personen von NET und NETfacts profitieren. | Foto: Katy Robjant
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Presseinfo aus Singen

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