"Die Ärztin" eröffnet die Spielzeit in Konstanz
Am Ende bleibt nur die tödliche Einsamkeit
Konstanz. Arthur Schnitzler hat vor über 110 Jahren mit "Professor Bernhardi" einen Klassiker geschrieben, der mit seiner schonungslosen Darlegung der Ausschlachtung eines Unglücks durch Eigeninteressen schon den damaligen Zeitgeist des Antisemitismus ins Herz traf. Die Theatergeschichte hat über die dramatische Story schon viele Tapetenschichten aktuellen Zeitgeists überklebt. Mit "Die Ärztin" unter der Regie von Franziska Autzen, eine vom englischen Autor adaptierten Fassung von Robert Icke, hat das Theater Konstanz eine weitere und ganz schön beklemmend düstere Schicht aufgetragen.
Die Story beginnt im Original: Eine 14-Jährige wird mit seiner Sepsis nach einem selbst unternommenen Abtreibungsversuch in einer Klinik aufgenommen. Dr. Ruth Wolf (Anna Eger), die hinter ihrem Rücken unter "BW" (Böser Wolf) geführt wird, hatte das kollabierende Mädchen aufgenommen, obwohl das eigentlich eine Klinik ist, die sich die Bekämpfung von Demenz als Geschäftsmodell auf die Fahnen geschrieben hat.
Es kommt, wie es kommen muss. Das Mädchen stirbt. Vor ihrem Zimmer spielen sich unterdessen dramatische Szenen ab: Die verreisten (katholischen) Eltern schicken ihren Pater (Patrick O. Beck), aber ob das Mädchen selbst der Kirche nahe steht, ist nicht mehr herauszufinden. Dem Pater wird der Zugang verwehrt, wegen seines Drängens sogar mit Handgreiflichkeiten. Und damit ist die Falle für die Ärztin schon zugeklappt - denn der Streit wurde natürlich mit dem Handy aufgenommen.
Um das Mädchen wird es kaum noch gehen. Dr. Wolf fand schon heraus, dass der Abreibungsversuch gerade dann stattfand, als die Eltern weg waren. Die "Schande" sollte noch abgewehrt werden. Was daraus gemacht wurde, ging nun wie ein Tsunami über Dr. Wolf hinweg: eine tödliche Flutwelle voller Gift des Egoismus und des Nichtverstehenwollens. Die Ärzte-Kollegen (Ramses Alfa, Ingo Biermann, Ulrich Hoppe, Julian Mantaj, Luise Harder) haben gleich die Hosen voll, denn einen Priester abzuweisen, der eine letzte Ölung vornehmen will, das geht nicht.
Vor allem nicht von einer Frau und dann noch einer Tochter jüdischer Eltern, obwohl sie selbst davon meilenweit entfernt ist. Und vor allem nicht in der aktuellen Situation, wo die Klinik gerade bei Geldgebern um einen Erweiterungsbau ringt, und wo eine reine Weste gezeigt werden soll. Schnell ist eine Online-Petition gestartet, die Zahl der Unterschreibenden schnellt in die Höhe, der Druck wächst gegen die Ärztin, der man hätte wünschen können, dass sie einfach zur Befreiung laut aufschreit. Aber die erträgt diesen ganzen Sturm gegen sie mit einer stoischen Sturheit und will nicht schuld sein.
Aber immer mehr spricht gegen sie: Selbst, dass sie an einem Waldrand wohnt, woraus ein "Hexenhaus" wird, wo sie in ihre Vergangenheit mit Charlie (ihrer oder ihrem an Alzheimer verstorbenen PartnerIn) tauchen kann, wo sie Sami beherbergt, der gerade seine ersten Erfahrungen mit seiner Sexualität macht. Aber die Welle wird immer höher: Ihr Einsatz für eine Kollegin für einen hohen Posten wird mit ihrem Rauswurf quittiert. Sie muss in eine TV-Show, in der die ganzen "Communitys" aus ihrer Ecke heraus ein Tribunal bereiten und jedes ihrer Worte spricht gegen sie. Und schnell lernt man: Antisemitismus ist nur eine Facette des Bösen in unserer Gesellschaft, andere heißen nur anders und sind dasselbe.
Ruth Wolf wird sozusagen aus ihrer Welt gespült. Am Ende verschwinden auch Charlie und Sami aus ihrem Leben. Fast mag man an das Gute zum Schluss glauben, als der Priester als Auslöser der Welle doch noch vorbeikommt und meint, dass es ja so nicht gemeint gewesen sei. Aber auch er löst sich auf. Am Ende wird die Bühne dunkel bis auf zwei Grablichter als das, was Einsamkeit an Gefühl machen kann.
In diesem Stück wird das Publikum durch die Achterbahn der Diffamierungen wahrhaftig mitgenommen, wie man immer wieder in manchen Szenen mit ungläubig empörten Lachen oder schmerzlichen Seufzen hört. Das Stück ist mittendrin in unserer Zeit gelandet, in der immer der/die Gegner/in wird, der/die nicht unserer Meinung ist. Ein Volltreffer, der da sogar als "Soundtrack" mit virtuoser Elektromusik von Chris Lüers und Seelenhammern wie Leonard Cohens "You want it darker“ oder London Grammars "Strong“ den Schmerz an dieser Welt ins Publikum hineinspült, von einer sprichwörtlich antiseptischen Bühne (Ute Radler) herunter. Und die Frage bleibt: Werden wir lernen zu verstehen, was wichtig ist?
Autor:Oliver Fiedler aus Gottmadingen |
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